Leseproben aus: Louis Begley, Lügen in Zeiten des Krieges



S. 53 ff., 110 ff., 135 ff., 181 ff.



[1] Vielen polnischen Juden gelang es, mit Hilfe gefälschter Papiere eine nicht-jüdische Identität anzunehmen. Ihnen drohten ganz spezielle Gefahren (S. 53 ff)

[2] Maciek, nun ein "katholischer" Junge, bekommt Katechismusunterricht. Die Lebensmittel werden rationiert, der Schwarzmarkt blüht (S. 110 ff.)

[3] 1./2. August 1944, der Warschauer Aufstand, der von den Deutschen niedergeschlagen wird: fast 200.000 Polen kommen dabei ums Leben. Die verbleibende Bevölkerung wird deportiert, in KZs oder zur Zwangsarbeit. Willige und grausame Helfer der Deutschen (SS und Wehrmacht) sind Ukrainer (S. 135 ff.)

[4] 1945, der Krieg ist vorbei, jedoch nicht nicht die Gefahr für die Juden (S. 181 ff.)




[1]

Vielen polnischen Juden gelang es, mit Hilfe gefälschter Papiere eine nicht-jüdische Identität anzunehmen. Ihnen drohten ganz spezielle Gefahren (S. 53 ff.)

Es war allgemein bekannt, daß die größte Gefahr für Juden, die unter arischem Namen lebten, darin bestand, von der polnischen Polizei entlarvt oder bei der polnischen oder deutschen Polizei denunziert zu werden - zum Beispiel von polnischen Nachbarn, die sich ärgerten, wenn irgendein Rosenduft oder Rozensztajn sich einen ehrlichen polnischen Namen und eine polnische Identität aneignete, oder von unzufriedenen Erpressern. Die Deutschen konnten einen assimilierten Juden nicht von einem Polen unterscheiden, es sei denn, der Jude sah genauso aus wie eine Karikatur in einer Nazizeitung. Juden, die sich als Polen ausgaben, wurden von den Deutschen nur erwischt, wenn die polnische Polizei oder ein Denunziant dabei half oder wenn der Ariernachweis, den der Jude vorzeigte, schlecht gefälscht war. Vielleicht weil die Deutschen auf diesem Gebiet so leicht zu täuschen waren, hatte sich neben den Aktivitäten der polnischen Polizei ein einträgliches Geschäft entwickelt: die Erpressung von Juden. Dieses Geschäft konnte jeder Pole betreiben, der jene mit Worten nicht zu beschreibenden jüdischen Elemente einer Physiognomie kannte: vielleicht, daß die Ohren eine Spur zu groß oder zu ausgeprägt waren oder die Augenlider ein wenig schwerer, als es einem reinrassigen Slawen anstand. Ebenso fein war das Gespür der Erpresser für Nuancen im Akzent und in der Ausdrucksweise. Auch wenn sie selbst oft wie Slumbewohner sprachen, konnten sie in der Redeweise eines ehemaligen berühmten Rechtsanwalts oder Professors der Altphilologie die unverkennbare, heitere oder traurige Sprachmelodie des Schtedtls wahrnehmen. Wenn kein Geld mehr da war, um den Erpresser noch ein weiteres Mal zu bezahlen, hatte eine Frau immer noch die Möglichkeit, ihn zu verun-sichern. Vielleicht konnte sie ihm einreden, sie sei Sarmatin, könne ihre Abstammung über viele Generationen reinrassiger Sarmaten zurückverfolgen, deren Namen alle wie ihr eigener mit dem edlen -ski der Sobieskis und Poniatowskis endeten; das Gegenteil mußte er erst einmal beweisen. Manchmal funktionierte das. Aber Männer konnten sich nicht herausreden und niemanden täuschen. Sehr früh in den Verhandlungen kam die schlichte logische Aufforderung: Wenn Pan kein Jidd, kein zydlak sind, dann bitte, haben Sie die Freundlichkeit, Ihre Hosen herunterzulassen? Und wir bitten vielmals um Verzeihung, wenn wir uns geirrt haben.

Deshalb richtete Tanja ihr Augenmerk von nun an auf meinen beschnittenen Penis; der war in dem neuen Leben, das vor uns lag, Großvaters und mein Kainsmal - seltsamerweise sichtbar an Abels Körper. Tanja meinte, er und ich hätten gute Aussichten, die wachsamen Beurteiler jüdischer Kennzeichen zu täuschen, aber nur oberhalb der Gürtellinie. Mein Großvater mit seiner faltenreichen Altmännerhaut könnte bei einiger Umsicht sogar den Hosentest bestehen. Mit Hilfe von Wundklebstoff war es möglich, so viel Haut um die Eichel zu legen, daß man eine unbeschnittene Vorhaut vortäuschen konnte. Also wurde Großvater mit solchem Klebstoff ausgestattet. Ein Junge oder junger Mann konnte sich so nicht helfen - ob man es mit plastischer Chirurgie versuchte? Tanja machte einen Termin mit einem jüdischen Chirurgen, der Lwow unmittelbar vor der Einrichtung des Ghettos verlassen hatte und nun in T. wohnte. Er hatte tatsächlich derartige Operationen ausgeführt. Man konnte Haut transplantieren. Aber er riet ab. Das Risiko, daß das Transplantat nicht anwuchs, war hoch, und außerdem bestand Infektionsgefahr. Bei einem Kind meines Alters kam dazu noch das Problem des Wachstums. Mein Penis würde länger werden, das Transplantat aber nicht mitwachsen. Schwierigkeiten bei der Erektion wären die Folge. Dieses Argument gab den Ausschlag. Sie beschlossen, mich zu lassen, wie ich war.


nach oben



[2]

Maciek, nun ein "katholischer" Junge, bekommt Katechismusunterricht. Die Lebensmittel werden rationiert, der Schwarzmarkt blüht (S. 110 ff.)

Der Katechismusunterricht fand in einem Raum hinter der Sakristei statt, in dem es kalt war und nach Schweiß roch. Tanja begleitete mich, wartete in der Kirche, bis der Unterricht vorbei war, und ging dann schnell mit mir fort. Sie wollte nicht, daß ich nach der Stunde auf sie wartete, sie wollte nicht, daß ich mit den anderen Kindern ins Gespräch kam, und sie wollte nicht, daß ich allein nach Hause ging. Ich wußte schon im voraus, daß sie es so halten würde, und ich war darüber heilfroh, auch wenn ich es nicht sagte. Ich hatte inzwischen Angst vor anderen Jungen. Außerdem entwickelte ich jetzt, da Essen sehr teuer und schwer aufzutreiben war, unglaublichen Appetit. Ich träumte vom Essen und aß zuviel, wann immer ich konnte. Ich war sehr dick geworden und hatte einen kugelrunden Bauch. Polnische Kinder waren normalerweise dünn - auch ich war früher immer dünn gewesen. Ich dachte, die Jungen in der Katechismusstunde würden sich über meinen dicken Bauch lustig machen.

Pater P. gab uns zum Lernen ein Buch mit Fragen und Antworten und Gebeten. Er selbst betete uns immer vor. Tanja schärfte mir ein, genau aufzupassen, wie die anderen Jungen beteten, wann sie niederknieten, wann sie sich bekreuzigten, und ihnen alles nachzumachen. Ich könne ruhig etwas langsam sein, aber niemand dürfe merken, daß ich die Bräuche nicht kannte. Dann sprach Pater P. über das Thema des Tages und rief uns namentlich auf, damit wir die Fragen im Buch beantworteten. Er las sie langsam und deutlich vor. Ich hielt es für am besten, die Antworten genauso zu geben, wie sie im Buch standen. Je länger ich das Buch studierte und Pater P.s Worten zuhörte, um so deutlicher wurde mir, daß ich in einer verzweifelten und abscheulichen Lage war.

Es gab keine Erlösung außer durch Gnade, und zur Gnade kam man nur durch die Taufe. Zwar hatte Jesus die tugendhaften Vorväter, die vor seiner Menschwerdung gestorben waren, mit sich genommen, als er gen Himmel gefahren war, aber dieses Tor zur Erlösung war nun geschlossen. Ich fragte Pater P., ob in unserer Zeit Wilde, die außerhalb der Kirche lebten, erlöst werden könnten, wenn sie gut seien, wozu er sich sehr dezidiert äußerte: Das Wirken Jesu sei abgeschlossen. Tugend ohne Gnade könne nicht genügen. Das erklärte er am Beispiel des jüdischen Volkes. Schon den Erzvätern des Alten Testamentes seien die Qualen der Hölle nicht erspart geblieben. Aber nach Christi Geburt hätten die Juden auch noch ihren Bund mit Gott gebrochen, Seinen Sohn gekreuzigt und sich Seiner Lehre widersetzt. Also sei jeder Jude, auch wenn er nicht gegen die Gebote verstoßen habe, eindeutig verdammt.

Wenn das zutraf, dann stand es um mich schlimmer als um die Wilden. Ein Wilder wußte vielleicht nichts von Jesus, aber ich war in einer katholischen Nation geboren und aufgewachsen; mein Vater und nun auch ich hatten aus eigenem Entschluß ein Leben in Christo abgelehnt. Und keiner konnte behaupten, daß ich die Zehn Gebote nicht brach. FalschZeugnis-Reden war verboten, aber schwerwiegende Lügen und Heucheleien waren dasselbe wie Falsch-Zeugnis-Reden. Ich log und heuchelte jeden Tag - allein deshalb steckte ich tief im Sündenpfuhl, wobei das Böse, das sonst in mir steckte, noch gar nicht mitgezählt war. Natürlich hätte ich mich taufen lassen können. Ich wußte jetzt, daß das Sakrament der Taufe einmalig und als Sakrament nicht wiederholbar war, so daß ich also einen Priester hätte finden müssen, dem wir anvertrauen konnten, daß ich Jude und noch ungetauft war. Die Taufe würde mich von der Erbsünde reinwaschen und die anderen Sünden, die ich im Lauf meines Lebens auf mich geladen hatte, gleich mit löschen, meinte ich, aber ich mußte ja weiterlügen, und wie konnte ich das, ohne damit gleich wieder eine Todsünde zu begehen, die mich auf die Straße der Verdammnis führte? Andererseits mochte es zwar sein, daß Pater P. sich irrte, daß also tugendhafte Menschen nicht verdammt würden, auch wenn sie nicht getauft waren - und Tanja war überzeugt, daß er sich irrte -, aber selbst wenn ich ohne Sündenbekenntnis, wahre Reue und Absolution Vergebung für meine Lügen erlangte, blieb immer noch die Frage, ob ich wirklich gut war. Ich war unrein in Gedanken, was eine Todsünde war, und im Begriff, eine Gotteslästerung zu begehen, die schlimmste Sünde von allen, wenn ich ungetauft und nach einer falschen Beichte zur Kommunion ging.

Ich setzte mich mit diesen Fragen allein und mit Tanja auseinander, sagte ihr dabei nichts von den Sünden, die sie nicht schon kannte, und flehte sie an, einen Ausweg für mich zu finden, damit ich die Hostie nicht entweihte. Ihre Antwort war immer gleich: Du mußt es tun, du kannst nichts dafür. Wenn Jesus Christus zuläßt, daß solche Dinge geschehen, dann ist es seine Sache, nicht deine. Sie verbot mir, Großvater mit diesem Unsinn zu behelligen.

Unterdessen schien der Kriegsgott das Deutsche Reich zu verlassen. Russische Truppen standen in der Bukowina, stießen zur tschechischen Grenze vor, eroberten innerhalb von zwei Tagen Odessa und Kertsch. Pani Bronicka und mein Großvater waren äußerst erregt. Ich wünschte mir, die beiden könnten zusammenkommen, aber das war ganz ausgeschlossen. Pani Bronicka zeichnete mir auf der Landkarte Linien ein, damit ich verstehen konnte, in welche Richtung die russischen Truppen marschierten: Die Truppen im Norden, die nach Litauen vordrangen, standen unter dem Kommando uns unbekannter Generäle, die Truppen Schukows und Rossowskis zielten Dolchen gleich auf das Herz Polens. Nur daß sie nicht uns erstechen wollten: Deutsches Blut würde fließen - und floß schon jetzt. Pan Wladek und Pan Stasiek waren am Hauptbahnhof gewesen, viele ihrer Freunde auch. Sie hatten gesehen, wie ein Lazarettzug nach dem anderen mit verwundeten deutschen Soldaten ankam und wie sie alle nach Westen weiterfuhren. Die Männer sahen zum Erschrecken aus, schmutzig, mit verbundenen Köpfen und irren Augen. In Warschau organisierte der Untergrund Anschläge auf die SS, auf dem Land wurden die Züge zum Entgleisen gebracht und angegriffen. Die SS nahm Geiseln. Das Gefängnis in Pawiak war angeblich voll von ihnen. Ab und zu wurden sie von Erschießungskommandos der Wehrmacht auf der Straße hingerichtet. Die Deutschen stopften ihren Gefangenen den Mund mit Zement, bevor sie sie erschossen. Dann konnten sie nicht mehr schreien oder die Nationalhymne singen.

Alle Lebensmittel wurden rationiert. Die Schwarzmarktpreise stiegen so schwindelerregend, daß Tanja geizig wurde. Großvater war auch unruhig wegen des Geldes. Eines Tages kam Tanja mit einem Stück Schweinefleisch vom Markt, das sie günstig erworben hatte, wahrscheinlich weil es minderwertig war. Sie kochte es besonders lange, da sie Angst vor Trichinen hatte. Als wir uns zum Abendessen setzten, waren wir beiden die einzigen, die Fleisch auf dem Teller hatten. Tanja sagte, wir wollten teilen, und gab allen eine Portion. Das Fleisch schmeckte seltsam süßlich. Pan Wladek sagte, er wolle es einem Tierarzt zeigen, wahrscheinlich habe man Tanja Pferdefleisch verkauft. Er nahm ein Stück mit Knochen mit. Am nächsten Tag erzählte er ihr unter dem Siegel der Verschwiegenheit, kein Zweifel, wir hätten Menschenfleisch gegessen.


nach oben



[3]

1./2. August 1944, der Warschauer Aufstand, der von den Deutschen niedergeschlagen wird: fast 200.000 Polen kommen dabei ums Leben. Die verbleibende Bevölkerung wird deportiert, in KZs oder zur Zwangsarbeit. Willige und grausame Helfer der Deutschen (SS und Wehrmacht) sind Ukrainer (S. 135 ff.)

Sie kamen am nächsten Morgen, als wir alle schon lange wach waren. Was dann folgte, kannten wir von der Judenvertreibung in T.: Wieder bellten sie abgehackte Kommandos, wieder schlugen sie mit den Gewehrkolben erst an das Haustor, dann an die Kellertür, und wieder hasteten und stolperten Leute durch Treppenhäuser. Ein Offizier der Wehrmacht und ein paar deutsche Soldaten standen beiseite auf dem Bürgersteig, während die Hauptarbeit von den Ukrainern erledigt wurde: Sie rannten durcheinander, stießen und schlugen die Menschen, sobald sie aus dem Haus auf die Straße traten. Manche hatten Peitschen, und manche hatten Hunde. Eine Frau unmittelbar vor uns bewegte sich nicht so schnell, wie ein Ukrainer es wollte. Er schlug sie mit der Peitsche, Ihr Mann kämpfte sich durch und stellte sich vor sie. Zwei Ukrainer schlugen ihn. Viele Leute aus anderen Häusern waren in Viererreihen schon abmarschbereit aufgestellt. Ein Ukrainer befahl Ruhe und forderte alle Frauen in unserer Gruppe auf, sofort ihren Schmuck abzugeben. Er zeigte auf einen Eimer. Dann gab er den Befehl, den Eimer von Hand zu Hand gehen zu lassen. Als wir an die Reihe kamen, zog Tanja Armband und Ring ab und warf beides hinein. Der Ukrainer ließ sich ihre Hände zeigen und winkte uns dann weiter. Ich sah Tanja an: Sie hatte sich ein Tuch umgebunden und es unter dem Kinn verknotet, ihr Gesicht war mit Kohlestaub schwarz verschmiert, sie ging gebeugt wie eine alte Frau. Als wir die Kolonne erreicht hatten, sagte sie, sie wolle mitten in einer Reihe gehen, ich könne außen bleiben. Obwohl die Kolonne schon abmarschbereit schien, gab es noch einmal Gebrüll und einen Schrei: Eine Frau hatte nichts in den Eimer geworfen; der Ukrainer, der darauf aufpaßte, griff nach ihrer Hand, sah einen Ring, schlug ihr ins Gesicht und schnitt ihr mit der leichten, ja flüssigen Bewegung eines Schlachters den Ringfinger ab. Er hielt ihn in die Höhe, damit ihn alle sehen konnten. Ein Ring war an ihm. Finger samt Ring wanderten in den Eimer.

Die Kolonne setzte sich in Bewegung. Tanja hatte uns beide in die Mitte der Reihe geschoben, an den Außenseiten gingen Männer. Jetzt sahen wir kein bekanntes Gesicht mehr. Die Leute aus unserem Haus hatten wir aus den Augen verloren; immer wieder hatte man sich aufstellen und wieder umstellen müssen, bis der deutsche Offizier endlich den Befehl zum Abmarsch gab. Die Kolonne bewegte sich die Krakowskie Przedmiescie hinab und bog rechts ab in die Aleje Jerozolimskie, aber es war kaum möglich, unter den rauchenden Trümmern die Straßen wiederzuerkennen, die wir uns so sorgfältig eingeprägt hatten. Tanja glaubte zu erkennen, daß man uns zum Hauptbahnhof führte. Wir waren ein Meer von Marschierenden. Tanja und ich hatten kein Gepäck, unsere Hände waren frei. Ich lief ganz leicht und hüpfend. Kam das von der Angst, oder weil ich die seltsame Parade, in der wir mitliefen, nach all den Wochen im Keller genoß? Um uns herum stolperten und schwankten Leute unter riesigen Gepäckstücken. Manche schleppten ein Möbelstück oder einen Teppich mit, viele hatten Kinder auf dem Arm. Direkt vor uns trug ein Mann einen Käfig mit einem großen grau und rot gefiederten Papagei darin; der Vogel stieß alle paar Minuten einen grellen Schrei aus. Die Käfigtür stand offen, und der Mann steckte immer wieder die Hand hinein und streichelte den Papagei beruhigend.

Unsere Kolonne erinnerte mich an die Austreibung der Juden aus dem Ghetto von T., die ich nachts vom Fenster aus beobachtet hatte, nur hatte diesmal alles größere Ausmaße: Die Alleen, auf denen wir marschierten, waren viel breiter und die Kolonne sehr viel länger, aber auch jetzt säumten Ukrainer, SS und Wehrmacht die Straßen, durch die wir liefen. Viele der Deutschen waren Offiziere. Die Ukrainer und ihre Hunde liefen mit uns mit, die Deutschen aber standen unbeweglich wie grüne und schwarze Statuen auf dem zerbrochenen, schuttbedeckten Pflaster. Von Zeit zu Zeit sprang ein Ukrainer in die Kolonne und schlug auf einen Menschen ein, der nicht mit den anderen Schritt hielt oder stehengeblieben war, um sein Gepäck in die andere Hand zu nehmen. Sie schlugen Eltern, deren Kinder weinten; wir durften keine Geräusche von uns geben. Und sie zerrten Frauen, die ihnen auffielen, aus der Kolonne. Sie prügelten die Frauen, prügelten die Männer, die sie beschützen wollten, zerrten die Frauen dann an den Straßenrand, hinter die Reihe der deutschen Posten. Sie vergewaltigten die Frauen, einzeln oder in Gruppen, auf der Erde oder gegen Mauerruinen gepreßt. Manchmal wurde eine Frau auf die Knie gezwungen, von hinten an den Haaren gezerrt, man riß ihr den Kopf zurück, und ein Soldat nach dem anderen stieß ihr seinen Penis in den schreienden Mund. Hatten sie eine Frau genug benutzt, stießen sie sie manchmal in die Kolonne zurück, und sie taumelte schluchzend mit uns allen weiter. Andere Frauen wurden gleich in den Trümmern mit dem Bajonett erstochen oder erschossen.

Bisweilen hielt die Kolonne an. Tanja und ich blieben dann stehen; Leute, die töricht genug waren, sich auf einen Koffer oder ein Paket zu setzen, wurden zu Boden geschlagen und dann so lange getreten und gestoßen, bis sie wieder ordentlich aufrecht standen. Während dieser Stopps suchten sich die Ukrainer eifrig Frauen aus. Direkt vor uns stand eine schlanke, strahlend schöne junge Frau mit ihrem Baby auf dem Arm. Ihre Schönheit und Eleganz waren mir schon aufgefallen; sie trug ein beigefarbiges Tweedkostüm mit dunklem Zickzackmuster, das mich an Tanjas Kostüme von früher erinnerte. Ein Ukrainer packte sie am Arm und zerrte sie aus der Kolonne. Zuerst wehrte sie sich nicht, aber dann riß sie sich los und lief auf einen deutschen Offizier zu, der ungefähr zwei Meter entfernt stand. Auch dieser Offizier war mir schon aufgefallen. Er hatte ein gutgeschnittenes gelassenes Gesicht und eine makellose Uniform. Die Stiefelschäfte, die seine Waden umschlossen, waren frisch poliert und schimmerten so sehr, wie es in dieser Straße voll Kalkstaub und Schutt eigentlich gar nicht sein konnte. Die Arme hatte er auf der Brust gekreuzt. Konnte es sein, daß die junge Frau einfach geblendet war vom Glanz der Stiefel? Als sie vor dem Offizier angekommen war, warf sie sich ihm zu Füßen, hielt mit ihrem einen Arm ihr Baby hoch und umklammerte mit dem anderen diese fabelhaften schwarzen Röhren. Das Gesicht des Offiziers verfinsterte sich vor Ärger und Verach-tung. Er hielt die Ukrainer mit einer Handbewegung zurück; alles um ihn herum schwieg, als er einen Moment nachdachte, was nun zu tun sei. Dem Augenblick der Reflexion folgte die Aktion, präzise und prompt. Der Offizier ergriff das Kind, befreite seine Stiefel aus der Umarmung der jungen Frau und trat ihr heftig gegen die Brust. Mit einem oder zwei Schritten erreichte er das nächste offene Kanalloch. Viele Kanaldeckel waren weg, weil die A. K. das Kanalsystem als Angriffs- und Fluchtweg benutzt hatte. Er hielt das Kind hoch, betrachtete es konzentriert und ließ es in den Kanal fallen. Die Ukrainer brachten die Mutter weg. Kurz darauf marschierte die Kolonne weiter.

Es war schon fast Abend, als wir an dem großen Platz vor dem Hauptbahnhof ankamen. Der Platz war in zwei ungleiche Teile geteilt. Auf dem größeren wurden wir und mit uns - wie wir annahmen - wohl alle Überlebenden aus Warschau zusammengetrieben. Manche ließen sich nieder und betteten die Köpfe in die Schöße ihrer Nachbarn, andere saßen auf ihrer Habe oder kauerten sich auf den Boden. Dazwischen gab es Durchgänge, die wie Linien in einem Kreuzworträtsel angelegt waren und die Menge in Abschnitte teilten. An den Rändern des Lagerplatzes patrouillierten ukrainische Wachen. Den kleineren Teil des Platzes hatte man zum Militärlager gemacht - jede Menge Laster und Panzerwagen standen auf ihm.

Tanja und ich setzten uns Rücken an Rücken auf den Boden. Unsere Nachbarn, die schon seit einem Tag da waren, sagten, es gäbe nichts zu essen und zu trinken, nur das, was man von Leuten erbitten könnte, die eine Feldflasche oder Lebensmittel in ihren Bündeln hätten. Offenbar gab es eine ganze Menge solch schlauer Menschen in unserer Umgebung. Wir erfuhren auch, daß am Morgen und am Tag zuvor Teile des Platzes abschnittsweise geräumt worden waren; ganze Gruppen waren zum Bahnhof gebracht worden. Neuankömmlinge wie wir waren nachgerückt. Die Nacht sei schlimmer als der Marsch und das Warten gewesen: Betrunken seien die Ukrainer und die Deutschen durch die Durchgänge gestrichen, um sich Frauen auszusuchen, die sie mit in ihr Lager geschleppt hätten. Schreie hätte man gehört, wahrscheinlich seien die Frauen nicht nur vergewaltigt, sondern auch noch gefoltert worden. Tanja fragte, ob jemand wisse, wohin die Züge uns bringen würden. Die Meinungen darüber waren geteilt. Manche glaubten, es würde eine kurze Reise werden, nur bis zum nächsten abgelegenen Wald, wo wir dann mit Maschinengewehren niedergemäht würden, andere sprachen von Konzentrationslagern oder Fabrikarbeit in Deutschland.


nach oben



[4]

1945, der Krieg ist vorbei, jedoch nicht nicht die Gefahr für die Juden (S. 181 ff.)

Raz dwa, raz dwa, eins zwei, eins zwei, nach rechts, nach links, Hände kreuzen mit dem Partner, Kopf hoch, alle drehen sich, Maciek tanzt krakowiak, Er trägt Knickerbocker aus braunem Tweed und braune Kniestrümpfe mit schottischem Rautenmuster, die Jacke aus demselben Tweed hat hinten einen kleinen Gürtel nach. der neuesten Nachkriegsmode. Alles ist ein bißchen zu neu und zu unbequem. Der Bauch hat sich wieder gerundet: Mit den Apfelsinen und den Tafeln Schokolade kamen auch Sardinen und Gänseleberpastete und babka, der köstlichste aller polnischen Kuchen ein Pfund Butter auf ein Pfund Mehl. Er hält die Hände sehr korrekt über Kreuz. Seine linke hält die rechte Hand seiner Partnerin, seine rechte ihre linke Hand. Sie geht ins Krakauer Mädchen-gimnazjum, ein rosiges Kind mit Puppengesicht, flachsblonden Zöpfen und rührend feuchten Händen. Der Takt ist gleichmäßig, das Akkordeon erstklassig, den Anweisungen des Tanzlehrers kann man gut folgen. Heißt Maciek denn jetzt wieder Maciek? Trägt er wieder seinen jüdischen Namen, der nie erwähnt werden durfte? Keineswegs. Das Visier wurde in Kielce nicht aufgeklappt, also bleibt es auch in Krakau geschlossen. Maciek hat neue arische Papiere und einen neuen polnischen Nachnamen ohne jeden jüdischen Beiklang. Das ist nur gut so, glauben Sie mir. Kaum waren Tanja und er in Krakau angekommen, den Steinstaub aus den Kellern von Kielce noch in den Lungen und den Krieg, der eben erst vorbei war, noch in den Knochen, da setzten ihre neuen Nachbarn schon wieder ein Pogrom ins Werk, das erste im befreiten Polen. Gewiß, keines von der altmodischen Art - mit alten Juden in schwarzen Kaftanen und runden Hüten, die auf allen vieren im Kreis herumlaufen und jugendliche Reiter auf dem Rücken tragen müssen, hopp, Pferd, hopp, schneller im Galopp; so nicht, chassidische Juden gibt es hier nicht mehr. Die Polizei verhielt sich ausgesprochen korrekt: absolut neutral, keine Einmischung, aber es muß ihnen in den Fingern gejuckt haben, die Gummiknüppel tanzen zu lassen! Ein paar Tage danach, noch in dieser Woche, haben dann Juden in polnischen Uniformen - Soldaten kann man so etwas ja wohl kaum nennen - unsere Jungen herumgestoßen und geschlagen - die reine Provokation -, da angeblich unsere polnischen Jungen Juden verprügelt hätten, als die in ihrer Synagoge so mit dem Oberkörper geschaukelt und gebetet hätten. Natürlich kam es auch zu einer Schlägerei, und ein, zwei Juden wurden in Abrahams Schoß gebettet, den Gebetsschal hatten sie ja noch um. Am nächsten Tag jedenfalls kamen alle zydlaks, alle Jidden in Krakau auf die Straße und hatten sich ein riesiges Zeichen angeheftet: unglaublich schamlos. Genau wie vor dem Krieg - denen ist es doch egal, ob sie die Nation blamieren, sogar jetzt, da wir jede Hilfe vom Westen brauchen, die wir nur bekommen können. Nichts haben die von Hitler gelernt. Von wegen Judenvernichtung - das haben die Deutschen genausowenig geschafft, wie den Krieg zu gewinnen. Die Dreckarbeit haben sie uns Polen überlassen, als ob wir nicht schon genug durchgemacht hätten. In Kielce zum Beispiel haben die guten Leute hinter Pani Dumonts Rücken schließlich ein Jahr nach Kriegsende ein Pogrom organisiert und was glauben Sie? Über vierzig Juden hat es noch gegeben, die man umbringen mußte! Tanja und Maciek haben ihre Lektion gelernt und beteiligen sich nicht an Protestmärschen gegen Pogrome. Sie haben ihre neuen Namen und ihre neuen Lügen, nur daß Tanja jetzt wieder die unverheiratete Tante ist. Nützen diese Lügen etwas? Fällt jemand darauf herein? Man sollte es nicht glauben. Schließlich gibt es doch wieder überall Juden in Krakau, sie kriechen aus allen Löchern. Die schlimmsten sind die Rußlandheimkehrer, die mit den russischen Truppen gekommen sind wie Läuse in deren Uniformen, nur mit dem Unterschied, daß sie wieder Pan Doktor hier und Pan Ingenieur da sind und in denselben eleganten Wohnungen wie vor dem Krieg wohnen. Auch andere Juden haben den Krieg wie die Maden im Speck überdauert, mitten unter uns waren sie, unser Essen haben sie gegessen, unsere guten polnischen Namen haben sie sich angeeignet, ihre Nachbarn in Gefahr gebracht, weil wir natürlich alle Bescheid wußten; diese Juden erkannte man doch auf den ersten Blick, auch wenn sie sich Sobieski nannten. Und bitte schön, wie viele von denen haben wir für ein Spottgeld in unserem Hinterzimmer versteckt, und immer haben sie geklagt, daß sie alles verloren hätten, als ob Geld noch eine Rolle spielte, wenn du als schwarzer Rauch durch den Schornstein fährst. Ja, es gibt auch noch andere Juden in Krakau, nicht nur die Rußlandheimkehrer: Ein paar, die sich wie Tanja und Maciek das Leben mit einer Lüge erkauft haben, und ein paar, die für ein Versteck bezahlt haben und nicht verraten und verkauft worden sind. Einige von ihnen führen wieder ihre alten Namen, Rosenduft oder Rozensztajn, und glauben, daß keiner daran Anstoß nimmt. Aber Tanja und Maciek wissen es besser: Pan Twardowski und Pani Babinska nehmen sehr viel Anstoß daran. Diese halbvergessenen Gespenster mit den verhaßten Namen, diese Menschen, mit denen irgendwas nicht stimmt, die werden schon sehen: Der Tag wird kommen, da man ihnen zeigt, wohin sie gehören, auch wenn manche Leute es offenbar nie in ihren Kopf kriegen, daß sie unerwünscht sind. Also läßt ein gescheiter Jude seinen Namen immer noch auf -ski oder ähnlich enden, auch wenn er einen wirklich aufmerksamen Menschen damit nicht täuschen kann. Vielleicht haben die Damen, mit denen Tanja Kaffee trinkt und Napoleonschnitten ißt, nicht gerade sarmatische Vorfahren, aber ihre Lebensweise und ihre Namen machen sich besser so. Sie versuchen niemanden zu reizen.


nach oben



         
         
         
         
     
Ausdrucken