Jürgen Strube
Die Beobachtung des Denkens – Rudolf Steiners "Philosophie der Freiheit" als Weg zur Bildekräfte-Erkenntnis

         
         
Jürgen Strube Die Beobachtung des Denkens – Rudolf Steiners "Philosophie der Freiheit" als Weg zur Bildekräfte-Erkenntnis   Verlag für Anthroposophie
ISBN 978-3-03769-023-9
248 Seiten
18,- €
         

Leseprobe aus dem Kapitel "Die Beobachtung des Denkens (S. 64 ff.)"

     
Beobachtung des Denkens

Zumindest für Wissenschaftler ist es üblich, eigene Gedankengänge mehrfach zu prüfen und sie wieder und wieder durchzugehen. Oft wird es sich dabei jedoch um ein Neu-Denken des Inhalts handeln, bei dem man sich die Fragestellung noch einmal vornimmt und die Zusammenhänge erneut vergegenwärtigt, selbst dann, wenn man den Gedankengang in exakt gleicher Weise wiederholt. Hingegen stellt ein wirklicher Rückblick auf das eigene Denken gewöhnlich eine Ausnahme dar.

Anders als beim gewöhnlichen Denken, bei dem man einen aktuell geschaffenen Inhalt im Bewusstsein hat, holt man sich beim Rückblick auf das eigene Denken stattdessen einen bereits vergangenen Denkvorgang ins Bewusstsein und betrachtet ihn. Auch wenn die Erinnerung oft blass ist, unsere vergangene Denktätigkeit ist nicht völlig spurlos geblieben. Es ist, zumindest für kurze Zeit, etwas zurückgeblieben, an das wir uns erinnern können. An diese Fähigkeit können wir bei der Beobachtung des Denkens anknüpfen.

Steiner bemerkt dazu: "... auch das Denken müssen wir erst durch Beobachtung kennenlernen." (PhdF, S.39)

"Während das Beobachten der Gegenstände und Vorgänge und das Denken darüber ganz alltägliche, mein fortlaufendes Leben ausfüllende Zustände sind, ist die Be-obachtung des Denkens eine Art Ausnahmezustand. (…) Man muss sich klar darüber sein, dass man bei der Beobachtung des Denkens auf dieses ein Verfahren anwendet, das für die Betrachtung des ganzen übrigen Weltinhaltes den normalen Zustand bildet, das aber im Verfolge dieses normalen Zustandes für das Denken selbst nicht eintritt." (32 PhdF, S. 40)

Bei der Formulierung "Beobachtung des Denkens" kann man die Erwartung haben, man müsse das Denken im inneren Wahrnehmungsraum so ähnlich sehen können wie mit Augen gesehene Tatsachen. Da sich so etwas nicht wie erwartet einstellt, geht man vielleicht fälschlich davon aus, dass man nicht in der Lage sei, das Denken zu beobachten. Jedoch bedeutet "Beobachten des Denkens" vorerst, sich an eigenes vergangenes Denken erinnern zu können. In den vorherigen Beispielen wurde, ohne dies besonders zu erwähnen, bereits mehrfach dazu angehalten, auf das eigene Denken zurückzublicken, es zu beobachten.

Durch innere Beobachtung kann man sich bewusst machen, auf welche Weise ein Denkinhalt aufgetreten und von welchen Tatsachen er begleitet ist. Auch was man selbst zu seinem Auftreten beigetragen hat, kann man untersuchen. So lässt sich allmählich erkunden, wie das Denken bei einem selbst erscheint. Mit zunehmender Erfahrung werden immer mehr Einzelheiten bewusst werden, und man wird möglicherweise bemerken, dass diese sich auch schon früher beim Denken ereignet haben. Sie waren zuvor vielleicht einfach nicht aufgefallen. Es kann aber auch der umgekehrte Fall vorliegen. Es gibt Eindrücke, von denen man weiß; sie sind bekannt, aber zugleich so selbstverständlich, dass man sie nicht für bemerkenswert hält. Sie sind da, aber man macht sich über ihre Bedeutung keine Gedanken.

Um sich mit der rückblickenden Beobachtung des Denkens vertraut zu machen, folgen einige Anregungen zur Übung.

Übung: Man erinnere sich an die eigene Erklärung der Wurfkurve. Man versuche sich möglichst genau zu erinnern.

Ergebnis: Man erinnert sich vielleicht, welche verschiedenen Überlegungen man zur Erklärung des Vorgangs angestellt hatte.

Weitere Übung: Man prüfe nun selbst, wie man bei obiger Übung vorging. Hat man sich ausschließlich erinnert oder ist man in ein erneutes Denken übergegangen, das vielleicht so ähnlich war wie der frühere Gedankengang?
Ergebnis: Oft beginnt man mit der Erinnerung an einem leicht zugänglichen Anhaltspunkt, beispielsweise bei dem Grundsätzlichen, mit der Ausgangsfrage oder einem aufgetretenen besonderen Ereignis und erinnert sich in Zusammenhang damit dann an Weiteres. Sobald man sich weiteren Einzelheiten nähert, geht man aber leicht zu einem Neu-Denken des Inhaltes über. Das kann zum Beispiel daran auffallen, dass man den Weg der Gedankenfolge etwas anders wählt. Es kann aber auch sein, dass man weiß, "jetzt denke ich anders", ohne dass der alte Weg im Einzelnen zugleich vor dem inneren Blick steht.

Weitere Gelegenheiten zur Beobachtung des Denkens, das heißt, zunächst zur Beschreibung unseres vergangenen Denkens und Vorstellens, sollen die folgenden Beispiele bieten. Bei ihnen geht es zugleich darum, mittels dieser Beobachtung den Unterschied zwischen vorstellendem Denken einerseits und begrifflichem Denken andererseits weiter kennenzulernen.



Übung: Was zeigt die obige Abbildung?

Ergebnis: Zunächst hat man sich vielleicht gefragt, wohin die Übung zielt, um eine richtige Antwort geben zu können. Die Antwort kann ganz verschieden ausfallen: Ein Strich, ein Symbol für Aufstieg, eine geordnete Ansammlung von Druckerschwärze auf weißem Papier, die grafische Darstellung einer mathematischen Funktion, bei der allerdings die Koordinatenachsen fehlen, und, neben weiterem, auch die zeichnerische Veranschaulichung einer geometrischen Geraden.

Wir wählen die letzte Möglichkeit. Dabei erinnern wir uns an den Unterschied zwischen einer geometrischen Geraden und der zeichnerischen Veranschaulichung. Die geometrische Gerade hat keine Breite, sie ist unendlich dünn, eine gedruckte Linie muss zwangsläufig eine Breite aufweisen. Die geometrische Gerade ist unendlich lang, eine zeichnerische Veranschaulichung hat irgendwo ihr Ende. Um die geometrische Gerade, die ja ein Begriff ist, genauer kennenzulernen, bleibt uns nichts anderes übrig, als die Beschränkungen der gegenständlichen Welt hinter uns zu lassen und uns vorstellend mit ihr zu befassen.

Übung: Man stelle sich eine geometrische Gerade, das heißt, eine unendlich lange, gerade Linie vor, die beliebig im Raum orientiert sein darf.

Weitere Übung: Nun stelle man den ‘Ausnahmezustand’ (s.o.) her, richte seine Aufmerksamkeit auf das soeben Vorgestellte und beschreibe es.

Ergebnis: Dem inneren Blick erschien das Vorstellungsbild der Geraden als in der Helligkeit hervorgehoben (hell, schwarz oder farbig) im Vorstellungsbereich. Von einer Geraden, die in der Geometrie als unendlich ausgedehnt gilt, konnte man auch in der Vorstellung nur ein Stück sichtbar machen. Die Anweisung, eine unendlich lange Linie vorzustellen, war nicht ausführbar. Irgendwo verschwamm die Vorstellung und man verzichtete auf eine weitere Sichtbarmachung mit einem Gedanken, den man als ‘und immer so weiter’ formulieren könnte. Obwohl für die Fortsetzung die Vorstellung fehlte, war doch völlig klar, was gemeint ist. Bei Zweifeln wiederhole man die Übung und prüfe die geschilderten Ergebnisse.

Es ergibt sich bei einer solchen Untersuchung, dass es eine nicht vorstellbare, aber dennoch erkennbare Gesetzmäßigkeit für die geometrische Gerade gibt. An die Stelle einer fortgeführten Vorstellung lässt man einen Gedanken (‘und immer so weiter’) treten, der sagt, wie die Vorstellung fortgesetzt werden müsste, ohne diese konkret zu bilden. Dieser Gedanke folgt der Gesetzmäßigkeit der Geraden, jedoch wird das eigentlich leitende Geradengesetz (der Begriff der Geraden) selbst nicht sichtbar.
         
         
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