Aus der Schreibwerkstatt (Mai 2018)

Anfang des Textes über das "Buch über nichts"









(Stand: 12.5.18.)



… Wenn du mich jemals wieder bei meinem Namen rufst, Dorli, gehen wir den Rosen nach im Garten des Palazzos unter einem der Mammutbäume, überlassen uns der Melodie der Bürsten des Schuhputzers von Split; schauen dem Schiff nach, das den Hafen von Dubrovnik verlässt, auf dem Oberdeck eine junge Frau, die ausschaut, als hätte sie Hodlers Herbstabend vor Augen, das Bild mit der Kastanienallee, die ins Verglühen führt …

Ich höre Radio. Wieder werde ich auf einen Dichter aufmerksam gemacht, den ich nicht kenne, wieder begeht man einen hundertsten Geburtstag.

Wieder heißt: vor ungefähr fünfzehn Jahren ist mir Ähnliches passiert: Ich hatte mit einem halben Ohr (vielleicht habe ich Zwiebeln geschnitten oder Teller in den Schrank geräumt, jedenfalls sehe ich mich in der Küche hantieren) ein paar Sätze aufgeschnappt: … ohne Zweifel eines der bedeutendsten Werke der deutschen Literatur und … hat ein Jahrhundertwerk geschrieben, mindestens ebenso bedeutend wie die Blechtrommel. Da ging das Ohr ganz auf. Als jemand das besprochene Werk das größte Buch des Jahrhunderts nennt (das zwanzigste war gemeint), musste ich mit allen meinen Ohren hinhören, um zu erfahren, wen ich da gerade verfehle. Der Name war gewiss genannt worden, mir durch die abwesenden Ohren hinein- und wieder hinausgegangen. Dass ich den Autor des größten, bedeutendsten, ja, des Jahrhundertwerks (und was der Lobpreisungen mehr waren) nicht kannte, war nicht möglich.

Als der Name fiel, konnte ich nicht glauben, dass ich ihn tatsächlich nie gehört hatte. Viel später lerne ich: man spricht von ihm als dem großen Unbekannten der deutschen Literatur. Direkt schämen, heißt das, muss ich mich nicht. Auf ihn, den großen Unbekannten, komme ich später zurück.

Im zweiten, aktuellen, Fall (wir schreiben den 10. Juni 2017) stellt man einen Schweizer Schriftsteller vor, den (wie ich ebenfalls später erfahre) der Autor und Kritiker Peter Hamm in der Zeit den bekanntesten Unbekannten der deutschsprachigen Literatur nennt – da geht die Unkenntnis gerade noch so durch. Ich bin kein Fachwissenschaftler, sage ich mir (und wünsche im Lauf dieser Arbeit doch immer mehr, einer zu sein). Der neun Jahre zuvor Verstorbene heißt Gerhard Meier. Man bringt ein Hörstück nach seinem letzten Werk Ob die Granatbäume blühen, und schon der Titel, dieses "Ob", lässt mich aufhorchen. Dabei ist die Zeile nicht vom Autor selber, sie ist eine Anleihe aus dem Hohen Lied Salomons, und später lese ich, wie Gerhard Meier monatelang von dieser Wortfolge ("Ob die Granatbäume blühen") beherrscht war. Sie hat mein Leben eingefärbt, sagt er, mein Klima, und so durfte aus diesem Klima heraus nach und nach ein Text entstehen.

Die Anleihe literarischer Fundstellen ist als solche schon ein Teil der Meisterschaft dieses Dichters, der das Anleihen zur Kunst gemacht hat, aber auch das weiß ich in diesem Augenblick natürlich noch nicht. Es wird mich freuen, ich kenne das Phänomen, das hinter den Anleihen steckt: Zu den Erfahrungen, die man beim Schreiben macht, gehört die merkwürdige, dass einem wie gerufen Dinge zuschießen, Nachrichten, Gespräche, Bücherstellen und Briefe, die man nur einfügen muss; oft merkt man im ersten Augenblick nicht, wozu sie gehören, sobald man sie aber einsetzt, sieht man, wie sie die ganze Umgebung erhellen. Erhart Kästner, der Griechenlandliebhaber, hat das festgestellt. Ihm hat man später vorgeworfen, er habe als "Dichter im Waffenrock" die Barbareien der Wehrmacht in Griechenland lieber nicht sehen wollen, sich stattdessen schöngeistigen Erlebnissen hingegeben. Das wird wohl so sein. Sich dem Krieg zu stellen und ihn in seiner Gänze sichtbar zu machen, war ihm nicht gegeben, im Gegensatz zu dem von Gerhard Meier hochgeschätzten Leo Tolstoi, dessen Krieg und Frieden er immer wieder in seinen Büchern heranzieht. Tolstoi zählt die Literaturkritikerin Elsbeth Pulver zu Meiers "Ikonen", zusammen mit Anton Tschechow, Virginia Woolf, Gottfried Keller, Claude Simon und Robert Walser (Marcel Proust hat sie vergessen, ihn könnte man gut an die erste Stelle setzen). Was Kästner aber zu den Zitaten sagt, den Dingen, die einem wie gerufen zuschießen, ist fein beobachtet und gerade bei Gerhard Meier von Belang. In erhellender Selbstverständlichkeit reihen sich die Zitierten in die Umgebung seiner Sätze ein, als hätten sie nur auf ihren Einsatz gewartet. Kästner hat aber auch geschrieben: Am Schluss ist das Leben nur eine Summe aus wenigen Stunden, auf die man zulebte. Sie sind; alles andere ist nur ein langes Warten gewesen. Dem hätte Gerhard Meier nie zugestimmt (ebensowenig wie ich). Ob man Kästner bedauern muss?

Aber auch mir schießen beim Hören Dinge zu, Erinnerungen, Eingebungen, Fragen. Wie schaut eine junge Frau aus, die Ferdinand Hodlers Herbstabend vor Augen hat (den Blick ins abendliche Verglühen gerichtet)? Immer wieder beruft Gerhard Meier in seinen Büchern die bildende Kunst zu Kronzeugen. Hodler hat tatsächlich eine Version des Herbstabends gemalt, eine Skizze, auf der eine junge Frau mit dem Rücken zum Betrachter steht, vor der Ferne, in der das abendliche Verglühen geschieht. Auf der bekannteren Fassung aber regieren nur die Bäume. Sie ist ohne Figur, so fügt Gerhard Meier sie ein, ebenso wie das Schiff, das aus dem Hafen von Dubrovnik zu den Inseln ausläuft und aus einer anderen Geschichte Handkes stammt.

Ich höre eine mit hoher Kunst gesprochene Lesung, ein bildreiches Gewebe aus Abschied und Liebe, ein Flechtwerk aus Erinnerungen, Beobachtungen, Assoziationen und Zitaten, elegant und vielarmig, aus Blumen, Sternen und Literatur, das ob seiner Schönheit mir beim Hören zeitweilig die Tränen aufsteigen lässt. Wofür ich dankbar bin – auch das Schreiben sollte mit Tränen in den Augen vor sich gehen, ob solchen der Trauer, der Rührung, der Freude: wir weinen zu wenig. ("Hast du je geweint?" – "Nie. Aber ich war schon oft den Tränen nah. Eigentlich bin ich ständig, und seit jeher, den Tränen nah." Peter Handke, Gestern Unterwegs.) Wir werden kaum bewegt. Im Privaten vielleicht, wenn wir es zulassen, doch im Außen, um uns herum, wird alles Geschäft, und die Dichter, die stiften, was bleibet – wo bleiben sie? Dabei wären sie notwendiger als je, die Menschen lassen sich nichts mehr sagen, von niemandem. Was angesichts derer, die immer lauter zwitschern, vielleicht kein Wunder ist. Das Dumme dabei ist, dass man die Leisen und Köstlichen, von denen man sich gerade etwas sagen lassen könnte, überhört.

Was ich höre, ist das Andenken des Dichters an seine verstorbene Frau, das Dorli. … Es gibt Tage, wo ihr zurückmöchtet, ihr dort oben, zurück zu euren Häusern, Gärten, Lieben. Dann stehn für gewöhnlich Herbstzeitlosen herum, und der Himmel ist eine einzige Wildrose. Und manch einer wundert sich, dass soviel Heimweh – soviel Schönheit zeitigt. Am selben Abend bestelle ich das Gesamtwerk des bekanntesten der unbekannten Dichter. Ich will ihm nahekommen.

Das erste Stück, das ich nachlese, sind die Granatbäume des Hörstücks. Ein Vers aus dem Hohelied leitet ein: Die du wohnest in den Gärten, lass mich deine Stimme hören. Bevor sich der Autor selber zu Wort meldet, lässt er Peter Handke den Vortritt mit dem ersten Satz der Erzählung Der Schuhputzer von Split aus dem Band Noch einmal für Thukydides von 1995, dessen Korrekturfahnen Gerhard Meier und seine Frau Dora auf einer Reise ins Engadin mit sich führen: Nachdem der Reisende am 1. Dezember 1987 lange die Schnitzfiguren am Holzportal der Kathedrale von Split betrachtet hatte, mit dem Johannes, der beim Letzten Abendmahl wieder den traurigen Kopf an die Schulter des Jesus legt, dabei mit einer Hand – Variante – Trost suchend im Ärmel seines Meisters, ging er hinunter auf die sonnige Strandpromenade, wo er einen greisen Schuhputzer sah, wie er, wohl schon lange unbeschäftigt, anfing, sich selber die Schuhe zu putzen. Auf diese Geschichte folgt in Handkes Büchlein die, in der das Schiff den Hafen von Dubrovnik (mit Meiers Frau mit Blick ins Verglühen an Bord) verlässt, die Epopöe vom Beladen eines Schiffs. Peter Handke überließ 1979 dem eine Generation älteren Gerhard Meier die Hälfte der Preissumme des ihm verliehenen Franz-Kafka-Preises. Nebenbei: Auch Thukydides war ein Kriegsberichterstatter. Die Encyclopaedia Britannica – in der elften, der "klassischen" Ausgabe von 1911 – schreibt über ihn: Thukydides steht unter den Männern seiner Zeit einzigartig da, und es gibt keinen, der seinen geistigen Horizont überträfe im Erfassen allgemeiner Bedeutung einzelner Vorgänge. Gerade das Auffassen der einzelnen, kleinen, alltäglichen Dinge und Vorgänge in ihrer Bedeutung für das Allgemeine zeichnet Handkes Schriften ebenso wie die von Gerhard Meier aus. Tolstois Romane sowieso.

Von klingender Prosa spricht Gerhard Meier, und dass er, wenn er an solche wieder einmal herankommen möchte, den Anfang von Theodor Fontanes Stechlin lese, … und für gewöhnlich stellt sich der erwartete Celloklang ein … Als ob es klingendere Prosa gäbe als Meiers eigene (auch wenn man dabei vielleicht eher an vielstimmige Kinderchöre mit Harfen statt an Celloklänge denken möchte). Aber das Eigene braucht zum Wachsen auch die Nahrung durch die andern, und Gerhard Meier legt seine Wurzeln in seinen Texten offen, weist auf sie hin, zitiert sie in einem fort.

Wie eben Fontane, der ihm in den Sinn kommt, als er an Berlin denkt, wo er in der Akademie der Künste über den Schriftsteller gesprochen hat, Fontane sage selber über seinen Stechlin, das Buch sei nichts als eine Idee, die sich einkleide: Zum Schluss stirbt ein Alter, und zwei Junge heiraten sich; – das ist so ziemlich alles, was auf 500 Seiten geschieht. (Kann man sich das als Klappentext vorstellen? Würde man ein Buch in die Hand nehmen, von dem der Autor selber sagt, es passiere nichts auf 500 Seiten, als dass ein Alter stirbt und zwei sich heiraten? Ja, wozu soll man denn so ein Buch noch lesen? Darauf Antworten möglich machen, ist die Aufgabe der Kritiker und Literaturwissenschaftler.) Den Anlass seiner Ansprache verrät Meier nicht, ich erfahre ihn aus den Reden und Materialien, die ich – nachdem ich erst noch einige der frühen Gedichte lese – im gleichen Band wie die Granatbäume finde: Man hat ihm den Fontane-Preis zugesprochen, 1991 ist das, und der Schriftsteller und Germanist Peter von Matt hält die Laudatio. Auch von Matt spricht von Fontane, und zwar als einem Autor, dessen Bücher dem Leser so gar keinen Fahneneid abverlangten, und Gerhard Meier nennt er, gleich im nächsten Satz, einen, der der Frage nach dem Klartext mit der Sanftmut des Konjunktivs begegne. Mir geht das nahe: Kein Klartext, keine klare Kante, kein Schwarz, kein Weiß. Und nichts von dem, was Sloterdijk die Trias von Gewohnheiten, Leidenschaften und mentalen Trägheiten nennt, auch bekannt als Meinungen. Niemals geben Gerhard Meiers Sätze Meinungen wieder, immer sind es Bilder (die Handke den "unrichtigen" Meinungen entgegenstellt).

In den folgenden Wochen und Monaten erlebe ich, wie Gerhard Meiers Bücher einen milden Glanz auf das Leben in seiner Ganzheit werfen, auf seine Schönheit wie auf seine Schrecken, wobei weder Schönheit noch Schrecken in gewöhnlicher Größe einfach stehenbleiben. Immer fängt er, bevor sie emotional werden, seine Sätze wieder ein. Und der Glanz vergeht nicht unter den Blinkfeuern der Meinungshaber und Klartextansager, im Gegenteil: mit leiser Leidenschaft konturiert Gerhard Meier die Vielfalt des Seins.








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