Leseproben aus: Italo Calvino, Wenn ein Reisender in einer Winternacht



Süddeutsche Zeitung Bibliothek Nr. 50, S. 7, 182 ff., 277



[1] So beginnt dieses Buch

[2] Eine der vielen Geschichten in der Geschichte: Ein Schriftsteller entwirft einen Stoff für eine Erzählung (S. 182 ff.)

[3] So endet dieses Buch




[1]

So beginnt dieses Buch

I


Du schickst dich an, den neuen Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht von Italo Calvino zu lesen. Entspanne dich. Sammle dich. Schieb jeden anderen Gedanken beiseite. Laß deine Umwelt im ungewissen verschwimmen. Mach lieber die Tür zu, drüben läuft immer das Fernsehen. Sag es den anderen gleich: "Nein, ich will nicht fernsehen!" Heb die Stimme, sonst hören sie's nicht: "Ich lese! Ich will nicht gestört werden!" Vielleicht haben sie's nicht gehört bei all dem Krach; sag's noch lauter, schrei: "Ich fang gerade an, den neuen Roman von Italo Calvino zu lesen!" Oder sag's auch nicht, wenn du nicht willst; hoffentlich lassen sie dich in Ruhe.

Such dir die bequemste Stellung: sitzend, langgestreckt, zusammengekauert oder liegend. Auf dem Rücken, auf der Seite, auf dem Bauch. Im Sessel, auf dem Sofa, auf dem Schaukelstuhl, auf dem Liegestuhl, auf dem Puff. In der Hängematte, wenn du eine hast. Natürlich auch auf dem Bett oder im Bett. Du kannst auch Kopfstand machen, in Yogahaltung. Dann selbstverständlich mit umgedrehtem Buch.

Sicher, die ideale Lesehaltung findet man nie. Früher las man im Stehen, vor einem Lesepult. Man war ans Stehen gewöhnt. Man entspannte sich dadurch vom Reiten. Beim Reiten zu lesen, ist noch niemandem eingefallen; und doch reizt dich jetzt der Gedanke an ein Lesen im Sattel, das Buch an die Mähne des Pferdes gelehnt, womöglich mit einem besonderen Zaumzeug an den Ohren befestigt. Mit den Füßen in Steigbügeln müßte man sehr gut lesen können, hochgestützte Füße sind die erste Bedingung für den Genuß einer Lektüre.

Also worauf wartest du noch? Streck die Beine aus, leg ruhig die Füße auf ein Kissen, auf zwei Kissen, auf die Sofalehne, auf die Ohrenstützen des Sessels, aufs Teetischchen, auf den Schreibtisch, aufs Klavier, auf den Globus. Zieh aber erst die Schuhe aus, wenn du die Füße hochlegen willst. Wenn nicht, zieh sie wieder an. Bleib jedenfalls nicht so sitzen, mit den Schuhen in der einen Hand und dem Buch in der anderen.

Stell dir das Licht so ein, daß deine Augen nicht müde werden. Mach's gleich, denn wenn du erst einmal in die Lektüre vertiefst bist, kannst du dich nicht mehr regen. Sieh zu, daß die Buchseite nicht im Schatten liegt, sonst drängen sich schwarze Lettern auf grauem Grund, gleichförmig wie ein Haufen Mäuse; laß das Licht aber auch nicht zu grell auf die Seite fallen, sonst reflektiert es auf dem harten Weiß des Papiers und frißt die Konturen der Buchstaben weg wie eine südliche Mittagssonne. Tu möglichst alles, um die Lektüre nicht später unterbrechen zu müssen. Leg dir Zigaretten in Reichweite, falls du Raucher bist, einen Aschenbecher. Was fehlt noch? Mußt du vielleicht aufs Klo? Bitte, das weißt du selber am besten.

Nicht daß du dir gerade von diesem Buch etwas Besonderes versprichst. Du bist einer, der sich grundsätzlich nichts mehr von irgend etwas verspricht. So viele andere, jüngere oder weniger junge als du, leben noch in der Erwartung, daß ihnen etwas Außergewöhnliches widerfährt, durch Bücher, durch Menschen, durch Reisen, durch Ereignisse oder durch das, was der nächste Tag bringen wird. Du nicht. Du weißt, daß man bestenfalls hoffen kann, das Schlimmste zu vermeiden. Zu diesem Ergebnis bist du gekommen, im Privatleben wie in den großen oder gar weltbewegenden Fragen. Und im Umgang mit Büchern? Eben, grad weil du es dir auf allen anderen Gebieten verboten hast, hältst du es nur für recht und billig, dir dieses jugendliche Vergnügen der Erwartung wenigstens noch in einem so klar umgrenzten Bereich wie dem der Bücher zu erlauben, wo es dir gut oder schlecht ergehen kann, wo aber die Gefahr der Enttäuschung nicht weiter schlimm ist.

Gut, du hast also in der Zeitung gelesen, daß Wenn ein Reisender in einer Winternacht erschienen ist, ein neues Buch von Italo Calvino, der seit Jahren keins mehr veröffentlicht hat. Du bist in eine Buchhandlung gegangen und hast dir den Band gekauft. Recht so.


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[1]

Eine der vielen Geschichten in der Geschichte: Ein Schriftsteller entwirft einen Stoff für eine Erzählung (S. 182 ff.)

Entwurf für eine Erzählung. Zwei Schriftsteller, wohnhaft in zwei Chalets an gegenüberliegenden Hängen des Tals, beobachten einander durchs Fernglas. Der eine pflegt morgens zu schreiben, der andere nachmittags. Morgens und nachmittags richtet der jeweils nicht schreibende Schriftsteller sein Fernglas auf den jeweils schreibenden.

Einer der beiden ist ein produktiver Schriftsteller, der andere ein zerquälter. Der zerquälte Schriftsteller sieht, wie der produktive Seite um Seite mit regelmäßigen Zeilen füllt, wie sich das Manuskript allmählich zu einem Stapel wohlgeordneter Bögen häuft. Bald wird das neue Buch fertig sein: zweifellos wieder so ein Erfolgsroman - denkt der zerquälte Schriftsteller mit einer gewissen Verachtung, aber nicht ohne Neid. Für ihn ist der produktive Schriftsteller nichts weiter als ein geschickter Handwerker mit der Fähigkeit, wie am Fließband Serienromane zu produzieren, die den Geschmack des Publikums treffen; dennoch kann er ein heftiges Neidgefühl nicht unterdrücken angesichts dieses Mannes, der sich mit so viel methodischer Sicherheit auszudrücken vermag. Und es ist nicht nur Neid, was er empfindet, sondern auch Bewunderung, ja, ehrliche Bewunderung: Zweifellos steckt in der Art, wie dieser Mann seine ganze Energie ins Schreiben legt, auch eine Großherzigkeit, ein Vertrauen in die Kommunikation, in die Möglichkeit, den anderen zu geben, was sie von ihm erwarten, ohne sich introvertierte Probleme zu stellen. Der zerquälte Schriftsteller würde wer weiß was geben, um dem produktiven zu gleichen, ja es ist mittlerweile sein größter Wunsch, so zu werden wie er.

Der produktive Schriftsteller beobachtet den zerquälten, wie dieser sich an den Schreibtisch setzt, an den Nägeln kaut, sich kratzt, ein Blatt zerreißt, wieder aufsteht und in die Küche geht, um sich einen Kaffee zu machen, dann einen schwarzen Tee, dann einen Kamillentee, dann liest er ein Gedicht von Hölderlin (obwohl Hölderlin offenkundig mit dem, was er schreibt, nichts zu tun hat), schreibt eine fertig geschriebene Seite noch einmal ab, um anschließend alles Zeile für Zeile auszuixen, telefoniert mit der Wäscherei (obwohl er weiß, daß die blauen Hosen nicht vor Donnerstag fertig sein können), macht sich ein paar Notizen, die er jetzt nicht verwenden kann, aber vielleicht einmal später, schaut im Lexikon unter dem Stichwort Tasmanien nach (obwohl klar ist, daß Tasmanien in dem, was er schreibt, gar nicht vorkommt), zerreißt zwei Seiten, legt eine Ravel-Platte auf ... Der produktive Schriftsteller hat die Werke des zerquälten nie recht gemocht; wenn er sie liest, hat er immer den Eindruck, als werde er gleich den entscheidenden Punkt erfassen, doch jedesmal entgleitet ihm dieser Punkt, und was bleibt, ist ein Gefühl von Unbehagen. Nun aber, da er ihn schreiben sieht, spürt er, daß dieser Mann mit etwas Dunklem ringt, mit einem labyrinthischen Wirrwarr, einem Ausweg, den es zu öffnen gilt, auch wenn man nicht weiß, wohin er führt; manchmal scheint ihm, als balanciere der andere auf einem dünnen Seil über einen Abgrund, und dann überkommt ihn ein Gefühl der Bewunderung. Aber in die Bewunderung mischt sich auch Neid, denn er spürt die Beschränktheit und Oberflächlichkeit seiner eigenen Arbeit im Vergleich zu dem, was der zerquälte Schriftsteller sucht.

Auf der Terrasse eines Chalets weiter unten im Tal liegt eine junge Frau in der Sonne und liest ein Buch. Die beiden Schriftsteller betrachten sie durch ihre Ferngläser. "Wie versunken sie ist, geradezu atemlos! Wie fieberhaft sie die Seiten umblättert!" denkt der zerquälte Schriftsteller. "Sicher liest sie einen Roman voller starker Effekte, so einen, wie der produktive Schriftsteller sie zu schreiben pflegt!" - "Wie versunken sie ist, geradezu verklärt meditierend, als sähe sie eine geheime Wahrheit sich offenbaren!" denkt der produktive Schriftsteller. "Sicher liest sie ein Buch voller tiefer Bedeutungen, so eins, wie der zerquälte Schriftsteller sie zu schreiben pflegt!"

Der größte Wunsch des zerquälten Schriftstellers ist nun, so gelesen zu werden, wie diese junge Frau liest. Er macht sich daran, einen Roman in der Weise zu schreiben, wie er meint, daß ihn der produktive Schriftsteller schreiben würde. Unterdessen ist der größte Wunsch des produktiven Schriftstellers ebenfalls, so gelesen zu werden, wie diese junge Frau liest. Er macht sich daran, einen Roman in der Weise zu schreiben, wie er meint, daß ihn der zerquälte Schriftsteller schreiben würde.

Die junge Frau erhält Besuch erst von dem einen Schriftsteller, dann von dem anderen. Beide kommen, um sie zu bitten, ihren gerade fertiggewordenen neuen Roman zu lesen.

Die junge Frau nimmt beide Manuskripte entgegen. Nach ein paar Tagen lädt sie die beiden Schriftsteller zu deren Verblüffung gemeinsam ein. "Was soll dieser Scherz?" fragt sie kühl. "Sie haben mir zwei Kopien desselben Romans gegeben!"

Oder:

Die junge Frau verwechselt die beiden Manuskripte. Dem Produktiven gibt sie den Roman des Zerquälten in der Manier des Produktiven zurück und dem Zerquälten den Roman des Produktiven in der Manier des Zerquälten. Beide reagieren sehr heftig auf die Entdeckung, daß sie imitiert worden sind, und finden zu ihrer eigenen Linie zurück.

Oder:

Ein Windstoß bringt die beiden Manuskripte durcheinander. Die Leserin versucht, sie wieder zu ordnen. Herauskommt ein einziger wunderschöner Roman, den die Kritiker über die Maßen loben, ohne jedoch zu wissen, wem sie ihn zuordnen sollen. Es ist der Roman, den sowohl der produktive wie der zerquälte Schriftsteller immer zu schreiben geträumt hatten.

Oder:

Die junge Frau war schon immer eine begeisterte Leserin des produktiven Schriftstellers und verabscheute den zerquälten. Sie liest den neuen Roman des produktiven, findet ihn nichtswürdig und erkennt, daß alles, was er bisher geschrieben hatte, nichtswürdig war; dafür erscheinen ihr nun im Rückblick die Werke des zerquälten Schriftstellers ganz hervorragend, und sie kann es gar nicht erwarten, seinen neuen Roman zu lesen. Sie findet darin jedoch etwas völlig anderes, als sie erwartet hatte, und schickt ihn gleichfalls zum Teufel.

Oder:

Wie oben, mit Ersetzung von "produktiv" durch "zerquält" und "zerquält" durch "produktiv."

Oder:

Die junge Frau war usw. usw. vom Produktiven begeistert und verabscheute den Zerquälten. Sie liest den neuen Roman des Produktiven und merkt gar nicht, daß sich etwas verändert hat; er gefällt ihr, ohne sie zu Begeisterungsstürmen hinzureißen. Das Manuskript des Zerquälten findet sie langweilig wie alles, was sie bisher von ihm gelesen hat. Sie antwortet beiden Schriftstellern mit ein paar Allerweltsphrasen. Beide gelangen zu der Überzeugung, dass diese Frau wohl keine sehr aufmerksame Leserin ist, und reden nicht mehr von der Sache.

Oder:

Wie oben, mit Ersetzung von usw.


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[3]

So endet dieses Buch

XII


Leser und Leserin, nun seid ihr Mann und Frau. Ein großes Ehebett empfängt eure parallelen Lektüren.

Ludmilla klappt ihr Buch zu, macht ihr Licht aus, legt ihren Kopf auf das Kissen, sagt: "Mach du auch aus. Bist du nicht lesemüde?"

Und du: "Einen Moment noch. Ich beende grad Wenn ein Reisender in einer Winternacht von Italo Calvino."

ENDE



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