Johannes Fried
Der Schleier der Erinnerung



         
         
Johannes Fried

Der Schleier der Erinnerung



Verag C.H.Beck
(Beck'sche Reihe)
ISBN 978-3-406-63175-7
512 Seiten
19,95 €
         
Obwohl ich kein Historiker bin, hat mich dieses Fachbuch des emeritierten Professors für Mittelalterliche Geschichte sehr gefesselt. Fried plädiert für einen neuen Umgang mit historischen Quellen, da er zu der Erkenntnis gelangt ist, dass das menschliche Gedächtnis (auf dem ja alle Überlieferung beruht) ein höchst zweifelhaftes Instrument ist, um Fakten und Daten, wie sie eben der Historiker benötigt, exakt wiederzugeben. Um dies zu belegen, führt er zahlreiche Beispiele auf, in denen eine "falsche" Erinnerung sozusagen dingfest gemacht werden konnte, durchaus prominente Beispiele aus der älteren wie der jüngeren Geschichte und mit hoher Relevanz für die historische Bewertung. Eine Reihe von früher unbezweifelt für wahr gehaltenen Überlieferungen enttarnt die neuere Forschung mehr und mehr als bewusste oder unbewusste Konstrukte. Das Neue an Frieds Vorgehensweise ist, dass er weit über den Tellerrand seiner Fachdisziplin hinausschaut und die Erkenntnisse der Ethnologie, Psychologie, Verhaltensforschung, der Kognitions-, Neuro- und einer Reihe weiterer Wissenschaften für die Geschichtswissenschaft erschließt. Seine These ist, dass die Historiker bisher viel zu naiv den schriftlichen Quellen vertraut haben (den mündlichen sowieso). Er führt viele Veränderungsfaktoren auf, die auf das menschliche Gedächtnis einwirken, je nach den Umständen der Aktualisierung des Erinnerungsinhalts. Anhand vieler Quellen weist er nach, dass ihre Entstehung keineswegs dem Wunsch nach Festhalten des Faktischen ("wie es wirklich gewesen") zu verdanken ist, ja, dass ein solcher Wunsch überhaupt erst in neuerer Zeit mit dem Auftreten der Geschichtswissenschaft moderner Prägung sich formuliert hat. Fried nennt dieses Streben nach Erfassung dessen, was einst ‚wirklich‘, ‚eigentlich‘, ‚objektiv‘ war, einen "unnatürlichen, fürs erste lebensfremden Wunsch", der überhaupt erst mit Einführung der Schrift in den Köpfen der Menschen auftauchen konnte. Für ihr Überleben, so Fried, hätten die Menschen nie ein solches faktisches Erinnerungsvermögen benötigt. Immer hätten ganz bestimmte Erfordernisse und Interessen der Gegenwart das Erinnern an die Vergangenheit in hohem Maß bestimmt.

Fried entwirft in groben Zügen einen neuen, erweiterten wissenschaftlichen Umgang mit historischen Quellen, die sich ja ausnahmslos Erinnerungs- (und damit, wie er nachweist, oft mehrfachen Verformungs-)Prozessen verdanken. Kein Verlust sei es, wenn die Glaubwürdigkeit der Quellen ins Wanken gerät, sondern im Gegenteil, der Einblick in gerade diese vielfältigen Verformungsmechanismen stelle einen hohen zusätzlichen Erkenntnisgewinn bezüglich sozialer und kultureller Entwicklungen dar.

"Das Gedächtnis", schreibt Fried, "ist ein notorischer Betrüger, ein Gaukler und Traumwandler und ein phantastischer Abstraktionskünstler dazu; und es bietet die lautere Wahrheit." Diese Stelle (S. 76) ist eine wunderschöne Bestätigung eines Wissenschaftlers für Erkenntnisse, welche Dichter und Schriftsteller intuitiv und oft lange vor der Wissenschaft zum Ausdruck bringen. In diesem Falle war es William Maxwell, der in seinem 1980 erschienen Roman "So Long, See You Tomorrow", deutsch: "Also dann bis morgen" einen verblüffend ähnlichen Gedanken formuliert hat:

Was wir, oder zumindest ich, überzeugt als Erinnerung ausgeben – womit wir einen Augenblick, eine Begebenheit, einen Sachverhalt meinen, die einem Fixierbad ausgesetzt und so vor dem Vergessen bewahrt wurden –, ist in Wirklichkeit eine Form des Geschichtenerzählens, die sich unaufhörlich in unserem Geist vollzieht und sich oft noch während des Erzählens verändert. Zu viele widerstreitende Gefühlsinteressen stehen auf dem Spiel, als dass das Leben jemals ganz und gar annehmbar sein könnte, und möglicherweise ist es das Werk des Geschichtenerzählers, die Dinge so umzuordnen, dass sie sich diesem Zweck fügen. Wie dem auch sei, wenn wir über die Vergangenheit reden, lügen wir mit jedem Atemzug.
         
 
         
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