Dietrich Bauer
Grundgesten im Pflanzenreich – Beobachtungen an Bäumen und Blüten
mit Zeichnungen von Barbara Hanneder

         
         
Dietrich Bauer Grundgesten im Pflanzenreich – Beobachtungen an Bäumen und Blüten
(mit Zeichnungen von Barbara Hanneder)
  Verlag Lebendige Erde, Darmstadt
ISBN 978-3-941232-01-3
122 Seiten
24,- €

Leseprobe aus dem Kapitel "Die Aufrechte. Wahrnehmung - Erlebnis - Erkenntnis durch innere Nachahmung"


"Pelorie" (ausnahmsweise endständige Blüte beim Fingerhut)
(klicken zum Vergrößern)
     
Ein herausragendes Wesensmerkmal der höheren Pflanzen ist also die Verwirklichung der Aufrechten in ihrem Wachstum. Wenn wir versuchen wollen, ein intimeres Verhältnis zu diesem Phänomen zu gewinnen, kann es hilfreich sein, uns unsere eigene menschliche Fähigkeit zum Aufrichten zu vergegenwärtigen. Es gehört zu den wichtigsten Erfahrungen des Menschen, das Prinzip der Aufrechten im eigenen Körper zu erleben. Das Kind - noch völlig unbewusst und ohne sich im späteren Leben daran erinnern zu können - erfährt um das erste Lebensjahr seine ersten Aufrichtversuche und die ersten freien Schritte in aufrechter Haltung als unbändige Freude. Dagegen haben wir im späteren Leben häufig Schwierigkeiten mit dem Aufstehen am Morgen, besonders dann, wenn uns nicht die unbedingte Pflicht aus dem Bett wirft. Wir spüren - je nach Temperamentslage und Gesundheitszustand - welche Willenskraft aufgewendet werden muss, um den bequemen Zustand des Liegens zu beenden. Fühlen und Denken helfen da nur begrenzt, der Akt will vollzogen werden. Wir erleben, wie in dieser Situation unsere gesamte Befindlichkeit eine Rolle spielt. Haben wir uns erst einmal längere Zeit gehen lassen, so werden die Widerstände, mit denen wir zu kämpfen haben, immer größer. Daraus ersehen wir, dass unsere Willensmacht stark mit unserer Selbsterziehung zusammenhängt, das heißt, mit dem, was wir selbst als Individualität aus unserer Persönlichkeit machen. In unseren Gewohnheiten erleben wir uns selbst, sei es in Selbstbestätigung, sei es im Widerstreit mit ihnen. Das Aufrichten ist ein Willensakt, der von unserem tiefsten Wesen ausgehen muss. Auf unseren Wesenskern hingeschaut, erleben wir, dass dieser - zumindest auch - willensartiger Natur ist.

Nehmen wir eine weitere allgemeine Erfahrung hinzu. Steht man mit vielen Menschen dicht gedrängt und ruhig zusammen, aber ohne gegenseitige direkte Berührung, - zum Beispiel in einer Wartesituation -, so fällt einem bald auf, dass kein Mensch wirklich still steht. Jeder ist mehr oder weniger im Schwanken begriffen, vergleichbar dem Schwanken der Bäume eines Hochwaldes, durch den ein leichter Wind streicht. Unsere aufrechte Haltung stellt nicht etwas Festes dar, das uns, wenn wir es uns einmal angeeignet haben, für den Rest des Lebens gegeben ist, wir müssen sie vielmehr ständig neu erringen. Wir stehen nicht aufrecht wie ein eingeschlagener Pfahl oder ein gewachsener Baum, sondern unser Wille spielt fortwährend mit den Kräften, die uns niederziehen wollen, mit den Schwerekräften der Erde, gegen die wir fortwährend ankämpfen. Wir sind in einem andauernden lebendigen Wechselspiel mit ihnen.

Was sagt uns diese Erfahrung, die wir an unserem Leib gewinnen, für die im Pflanzenreich verwirklichte Aufrechte? Zunächst wollen wir rein hypothetisch annehmen, dass eine Ähnlichkeit zwischen den Kräften, die in uns Ich-artiger, willenshafter Natur sind, und den Kräften, welche die Pflanze aufrichten, besteht. Zugleich heißt es aber genauer hinzuschauen, um zu erkennen, wo die Unterschiede liegen.

Die Pflanze - sagen wir ein Baum - erstrebt die Aufrechte nicht immer wieder aufs Neue aus einer Ruhelage wie der Mensch, sondern verwirklicht sie in stetigem Wachstum. Im Wachstum bildet sich das Stützgewebe des Holzes, das eine bestimmte Elastizität haben muss, damit der Baum den Kräften der Umgebung, wie Wind und anderen Belastungen, in gewissem Rahmen nachgeben und zugleich ihnen widerstehen kann. Da nicht alle Einwirkungen vollkommen abgewehrt werden können, stellt sich schließlich der aufrechte Stamm nie in eindeutiger Korrektheit dar, sondern immer mit kleinen krummen oder schiefen Abweichungen. Diese zeigen, dass auch im Baum eine Art Ringen um die Aufrechte stattfindet, aber dieses muss innerhalb des Wachstumsprozesses geschehen. Ist die Richtung einmal festgelegt, kann kaum mehr nachgebessert werden.

Ein weiterer Unterschied im Vergleich der Aufrechten bei Mensch und Baum zeigt sich darin, dass das Baumwachstum keinen echten betonten Abschluss findet. Nehmen wir als Beispiel eine Fichte oder Tanne: ihr Spitzenwachstum kommt prinzipiell nie zu einem Ende, man kann höchstens von einem Aufhören im hohen Alter reden. Ebenso finden die Wurzeln, beginnend mit der Primärwurzel des Samens, keinen ausgeprägten Abschluss, vielmehr stellen sie im Alter ihr Wachstum einfach ein.

Stellen wir uns diesem Bild nun als aufrechter Mensch gegenüber, der oben das Haupt als Abschluss seiner Gestalt trägt und unten mit seinen Fußsohlen die Erde tritt, so arbeitet sich der Unterschied fast wie von selbst heraus. Der Mensch handhabt den Willen, die Kraft zur Aufrechte individuell, er trägt diese Kraft in sich. Die Pflanze wird dagegen durch ihre Hingabe an das Licht nach oben gezogen, während sie zugleich mit ihrer Wurzel der Dunkelheit, der Erdenmitte entgegen strebt. Die wirkende Kraft, welche wir in uns selbst als tätigen Willen erleben, geht wie durch die Pflanze hindurch.

Diese Kräfte sind freie allgemeine Weltenkräfte, wirksam zwischen Sonnenlicht und Erdendichte. In ihrer Richtung sind sie für alle Pflanzen gleich, nur durch Stärke, Höhe und Tiefgang unterschieden. Wohl kann man sagen, dass es dieselben Kräfte sind, die den Menschen aufrichten, aber im Gegensatz zum Pflanzenreich macht jeder einzelne Mensch auf individuelle Weise von ihnen Gebrauch. Darüber hinaus befähigt die aufrechte Haltung den Menschen, sich der Welt als Ganzes gegenüber zu stellen: Er erwacht zum Selbstbewusstsein.
         
Abbildungen aus "Grundgesten im Pflanzenreich"
         
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