Leseprobe aus: Katharina Hagena, Der Geschmack von Apfelkernen









Großmutter Bertha hat drei Töchter: Harriet, Inga und Christa (die Mutter der Erzählerin). Hinnerk ist Berthas Mann, Notar in Bootshaven, dem Ort in Norddeutschland, wo die drei Schwestern aufwachsen. (S. 118 ff.)



Als einziges der drei Mädchen hatte Harriet so etwas wie Jungsgeschichten. Christa war zu schüchtern. Inga hatte ihre Verehrer, die sie anschauen, aber nicht anfassen durften und es vielleicht auch gar nicht darauf abgesehen hatten. Harriet war keine besonders trickreiche oder heißblütige Liebhaberin, aber sie brauchte nur auf eine bestimmte Weise angesehen zu werden, und sofort fing es in ihrem Bauch an zu flattern. Ohne Mühe ließ sie sich mitreißen, und sie war fähig zu einer Ekstase, die den Jungen schier den Atem raubte. Sie war vielleicht nicht das, was man gut im Bett nannte, was immer das auch sein mochte, aber sie machte, dass die Männer sich fühlten, als wären sie es. Und das war fast noch besser. Hinzu kam, dass sie als jüngste der Schwestern auch in jene Zeit geriet, in der plötzlich Blumen, Sex und Frieden eine wichtige Rolle spielten. Nicht in Bootshaven und am allerwenigsten im Haus in der Geestestraße. Anders als Christa und Inga studierte Harriet in Göttingen, hatte ein paar indische Blusen im Schrank und trug mit Vorliebe eine Hose, die oben eng und unten weit war und aus lauter gleich großen rechteckigen Lederflicken bestand. Und sie begann, sich die kastanienbraunen Haare mit Henna zu färben. Wahrscheinlich war Harriet ein Hippie, aber es gab keinen Bruch in ihrer Persönlichkeit, keinen Sprung. Sie wurde genau so, wie sie ohnehin war.

Obwohl nur drei Jahre zwischen Inga und Harriet lagen und fünf zwischen Christa und Harriet, schien dieser Abstand wie eine ganze Generation. Doch da Harriet nun mal aus der Familie kam, aus der sie kam, bewegte sich ihr Hippiesein in gemäßigten Bahnen. Sie nahm keine harten Drogen, trank höchstens etwas Haschischtee, den sie aber nicht mochte und von dem sie vor allem Hunger kriegte. Ihre berauschte Seele hatte gar keine Zeit, die Flügel zu spannen und über den Horizont hinaus zu segeln, da Harriet unentwegt ihren Bauch mit Nahrung füllen musste. Sie wohnte mit einem anderen Mädchen zusammen, Cornelia. Diese war etwas älter als Harriet, ernst und sehr schüchtern. Herrenbesuch kam nicht in Frage. So viele Herren waren es ja auch gar nicht.

Doch dann kam dieser Medizinstudent, Friedrich Quast. Tante Inga hatte mir erst vor wenigen Jahren von ihm erzählt, nämlich an jenem Abend, als sie mir die Porträtaufnahmen von Bertha gezeigt hatte. Es hatte wohl an Tante Ingas betörender Stimme und ihrem spannungsgeladenen Wesen gelegen, dass ich mir Harriets Liebesgeschichte in glühenden Farben ausmalen musste.

Friedrich Quast war rothaarig und hatte eine weiße Haut, die an manchen Stellen bläulich schimmerte. Schweigsam war er und verschlossen. Nur seine kräftigen, sommersprossigen Hände waren lebhaft und selbstsicher und wussten genau, wohin sie wollten, und vor allem: was sie zu tun hatten, wenn sie dort waren, wo sie sein wollten. Harriet war hingerissen, das war etwas ganz anderes als das hastige und, zugegeben rührend, ungeschickte Anfassen ihrer früheren Verehrer.

Sie hatte ihn auf dem Fest einer Freundin das erste Mal gesehen, er war der Mitbewohner des Bruders dieser Freundin. Unbeteiligt stand er am Rand und schaute auf die Gäste. Harriet fand ihn arrogant und hässlich. Er war groß und dünn, hatte eine Nase, die lang und gebogen war wie ein Schnabel. Er lehnte an der Wand, als könnte er nicht gut auf seinen Kranichbeinen stehen. Als Harriet nach Hause gehen wollte, stand er unten neben der Haustür und rauchte. Ohne ein Wort zu sagen, bot er ihr eine Zigarette an, die Harriet, weil sie neugierig und geschmeichelt war, annahm. Als er ihr aber Feuer gab und mit seiner Hand, die dem Streichholz Windschutz geben musste, ihre Wange streifte, wobei er nicht einmal so tat, als sei es aus Versehen gewesen, da bekam sie auf der Stelle weiche Knie.

Sie nahm ihn mit nach Hause, das heißt, als sie ging, ging er einfach mit. Und beiden war klar, dass er sie nicht nach Hause begleiten wollte, weil er so ein höflicher Mensch war. Es war Freitagabend, die Mitbewohnerin Cornelia war wie jedes Wochenende bei ihren Eltern. Friedrich Quast und Harriet blieben zwei Nächte und zwei Tage in Harriets Wohnung. So einsilbig und unbeteiligt Friedrich war, wenn er angekleidet war, so begeistert und phantasievoll setzte er sich ein, wenn er nackt mit Harriet im Bett lag. Seine schönen Hände strichen, pressten, ritzten, tupften mit einer Bestimmtheit über ihren Körper, die ihr den Atem raubte. Er schien ihren Körper viel besser zu kennen als sie selbst. Friedrich leckte und schnupperte und erkundete alles an ihr mit einem Interesse und einer Neugier, die aber gar nichts mit der Entdeckerfreude eines kleinen Jungen gemein hatte, sondern vielmehr mit der genussvollen Konzentration eines Feinschmeckers.

Harriet behielt dieses Wochenende immer als das in Erinnerung, an dem sie am meisten über sich gelernt hatte. Ihre sexuelle Befreiung hatte weniger mit den sechziger Jahren als mit diesen zwei Nächten und zwei Tagen zu tun. Wenn sie und Friedrich Quast nicht miteinander schliefen, dann aßen sie ein paar Brote und Äpfel, die Harriet immer in der Wohnung hatte. Friedrich rauchte. Sie redeten wenig. Obwohl er Mediziner war, sprachen sie auch nicht über Verhütung. Harriet dachte nicht einmal daran. Am Sonntagnachmittag stand Friedrich Quast auf, steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen, zog sich an und beugte sich hinunter zu Harriet, die ihn erstaunt ansah. Er schaute ihr ins Gesicht, sagte, er müsse los, küsste sie kurz, aber warm auf die Lippen und verschwand. Harriet blieb liegen und war nicht sehr beunruhigt. Sie hörte, wie er Cornelia im Treppenhaus traf. Hörte, wie beide ihre Schritte kurz anhielten, etwas murmelten, dann hörte sie Friedrich schnell hinuntergehen und erst nach einer gewissen Zeit Cornelias gemessene Schritte hinauf. Oje, dachte Harriet, ojeoje. Und tatsächlich, kurz darauf klopfte es auch schon an ihrer Tür. Cornelia war entsetzt, als sie Harriet im Bett vorfand, am helllichten Tag, das Haar zerzaust, Wangen rosig, die Augen mit dunklen Schatten, aber voller Glanz, der Mund rot, fast wund. Der Geruch von Rauch und Sex traf sie wie ein Schlag, und sie öffnete ein paar Mal den Mund, blickte Harriet fast hasserfüllt an und schloss die Tür hinter sich. Harriet fühlte sich schlecht, aber nicht so schlecht, wie sie eigentlich erwartet hatte.

Schlecht, dann aber viel schlechter, als sie erwartet hatte, ging es ihr, als Friedrich sich weder am nächsten noch am übernächsten Tag bei ihr meldete. Das folgende Wochenende verbrachte sie wieder im Bett, diesmal allein und so furchtbar unglücklich, dass sich Cornelia Sorgen machte und beinahe schon hoffte, der Mann möge sich doch wieder zeigen. Eine weitere Woche verging, Harriet hatte inzwischen herausbekommen, wo er wohnte, und ihm zwei Briefe geschrieben, da klingelte er am Samstagabend an ihrer Tür. Als sie sah, wer es war, übergab sie sich. Friedrich hielt ihr den Kopf, brachte sie zurück ins Bett, öffnete das Fenster, rauchte aus dem offenen Fenster hinaus und wartete, bis sie wieder Farbe im Gesicht hatte. Dann ging er zu ihr und legte ihr die Hand auf die linke Brust. Harriets Atem ging schneller.

Er blieb bis Montag früh. Wegen des Schmerzes, den sie in den zwei Wochen durchgemacht hatte, war alles noch intensiver als beim ersten Mal. Harriet begriff, warum Leidenschaft eben auch so heißen muss. Als er wegging, fragte Harriet voller Angst, ob er wiederkommen würde. Friedrich nickte kurz und verschwand. Wieder für zwei Wochen. Harriet versuchte, sich zusammenzureißen, aber es klappte nicht, sie fiel Tag für Tag mehr auseinander. Und immer, wenn sie sich bemühte, irgendwo ein Stück festzuhalten, dann rutschte an einer anderen Stelle etwas weg. Und kaum griff sie dorthin, fiel das ab, woran sie sich zuerst geklammert hatte. Ihre Noten wurden schlecht. Cornelia bat darum, sie möge sich eine andere Wohnung suchen. Ihre Eltern machten ihr Vorwürfe, weil sie eine Prüfung in den Sand gesetzt hatte. Sie wurde dünn und ihr Haar stumpf. Als er nach zwei Wochen wieder auftauchte, stellte sich Cornelia vor Harriets Zimmer und rief mit hoher Stimme, sie würde nächste Woche mit einer anderen Freundin zusammenziehen. Da sie jetzt im Examen stehe, sei sie auch an den Wochenenden in Göttingen und brauche mehr Ruhe. Harriet schämte sich, aber ihre Erleichterung darüber, Friedrich wiederzusehen, war größer. Sie fragte ihn, ob er bei ihr einziehen wolle. Friedrich nickte. Das war ein Skandal. Hinnerk, als er davon erfuhr, tobte, er ging sofort los und änderte sein Testament. Er verstieß Harriet. Sie sollte nicht mehr nach Hause kommen. Auch Weihnachten nicht.

Friedrich wohnte bei Harriet, aber konnte man wirklich sagen, er war bei ihr eingezogen? Er schlief dort und hatte ein paar Kleidungsstücke zum Wechseln in Cornelias alten Schrank gelegt. Aber seine Bücher, seine Sachen, Bilder, Stifte, Decken, Kissen, eben all das, womit auch ein möblierter Herr so lebte, das alles brachte er nie in die Wohnung. Harriet war verstört. Friedrich aber sagte, er brauche sonst nichts. Harriet ging einmal sogar heimlich zur Wohnung von Friedrichs vorherigem Mitbewohner, jenem Bruder ihrer Kommilitonin, aber der lebte auch nicht mehr dort. Er hatte fertig studiert und war zurück ins Sauerland gegangen, um in die Firma seines Vaters mit einzusteigen. Keiner im Haus wusste etwas Genaueres über Friedrich Quast. Als Harriet ihn einmal fragte, wo seine restlichen Sachen wären, antwortete er, seine Bücher habe er in einem kleinen Zimmer in der Medizinischen Fakultät, wo er einen Erstsemesterkurs leite. Und der Rest? Der Rest sei zwischengelagert. Bei einer Freundin seiner Mutter. Harriet wurde eifersüchtig. Sie hatte den Verdacht, dass sie nicht die einzige Frau war, die er traf. Und obwohl Friedrich jetzt tatsächlich öfter bei ihr war und obwohl sie, wenn er da war, immer miteinander schliefen, so war Harriet mehr und mehr davon überzeugt, dass er andere Frauen haben musste. Mal gab es einen fremden Geruch, mal einen zu beiläufig geöffneten Brief oder ein rasches Aufbrechen nach einem verstohlenen Blick auf die Uhr. Harriet schloss die Augen. Und flog davon.

Irgendwann machte sie die Augen wieder auf, um festzustellen, dass sie mitten im Flug sitzengelassen worden war. Schwanger sitzengelassen. Friedrich hatte es bemerkt, bevor sie es selbst bemerkt hatte. Ja, sie hatte in letzter Zeit öfter Zahnfleischbluten gehabt, einmal auch eine Zahnfleischentzündung. Ja, dass sie müde war, hatte sie auch festgestellt, aber das kam von den Nächten, in denen sie mit Friedrich Sex hatte, statt zu schlafen. Und vom Fliegen. Dass ihre Brüste größer wurden, nahm sie nicht wahr, gespürt hatte sie schon etwas, aber nicht darüber nachgedacht. Friedrich sagte nichts, er schaute sie nur an, fragte nach ihrem Zyklus. Harriet zuckte schlaftrunken mit den Schultern und schloss die Augen. In dieser Nacht weckte er sie, legte sich auf ihren Rücken, nahm sie zärtlich und zugleich energisch von hinten und verließ noch in derselben Nacht ihre Wohnung. Harriet fand das noch nicht weiter schlimm. Das war zwar anstrengend, aber nichts Besonderes. Als sie in seinen Schrank schaute, sah sie, dass selbst die spärlichen Kleidungsstücke verschwunden waren, und musste sich übergeben. Doch diese Übelkeit hörte danach gar nicht mehr auf. Sie erbrach sich morgens, mittags, abends und sogar nachts. Während sie im Badezimmer über der Toilettenschüssel kniete, erinnerte sie sich plötzlich an seine letzte Frage. Harriet kniff die Augen so fest sie konnte zusammen, aber sie flog nicht mehr. Sie hoffte, er würde zurückkommen, glaubte es aber nicht. Und ihr Gefühl, Harriet selbst nannte es Intuition, trog sie nicht.

Zwei Jahrzehnte später, Rosmarie war fünf Jahre tot, ging Inga in Bremen an einer Arztpraxis vorbei. Sie las das Schild mehr aus Gewohnheit denn aus Interesse. Und als sie schon an der nächsten Kreuzung war, wurde ihr mit einem Schlag klar, welcher Name auf dem Schild gestanden hatte. Sie ging noch einmal zurück. Und tatsächlich: Dr. Friedrich Quast, Kardiologe. Natürlich. Ein Herzspezialist, dachte Inga, schnaubte verächtlich und wollte schon hineingehen. Doch dann überlegte sie es sich und rief ihre Schwester Harriet an.

Die schwangere Harriet war nicht am Boden zerstört, als ihr klar wurde, dass sie jetzt ganz allein ein uneheliches Kind aufziehen würde. Das Spucken hörte irgendwann auf. Sie machte ihr Examen, und das sogar recht gut. Die Blicke und das Getuschel der Kommilitoninnen fochten sie nicht so an, wie sie befürchtet hatte, und es wurde auch gar nicht so viel getuschelt, wie sie erwartet hatte. Nur als sie Cornelia zufällig in der Stadt traf und diese mit vielsagendem Blick auf ihren Bauch kopfschüttelnd an ihr vorbeilief, da setzte sie sich in ein Cafe und weinte. Sie rang sich durch und schrieb ihren Eltern und war nicht darauf gefasst, dass die Antwort so ausfallen würde. Bertha schrieb ihrer Tochter, dass sie sich wünschte, Harriet möge nach Hause kommen. Sie habe mit Hinnerk gesprochen, und er sei nicht glücklich über die ganze Geschichte. Aber - und das war das einzige Mal in ihrem Leben, dass Bertha dieses Argument gegen ihren Mann anführte - aber das Haus sei nicht nur Hinnerks, sondern vor allem auch ihr eigenes, Berthas, Elternhaus und groß genug für ihre Tochter als auch für ihr Enkelkind.

Harriet fuhr zurück nach Bootshaven. Als Hinnerk ihren Bauch sah, drehte er auf dem Absatz um und ging für den Rest des Tages ins Arbeitszimmer. Doch er sagte nichts. Bertha hatte sich durchgesetzt. Keiner hat je erfahren, wie hoch der Preis war, den sie dafür zahlen musste.


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