Leseprobe aus: Marlen Haushofer, Die Tapetentür



In mehreren Ausgaben erhältlich; die Rezension bezieht sich auf die gebundene Ausgabe 2000, S. 61, 63, 166






Diese Leseprobe stellt mehrere Tagebucheinträge Annettes vor



14. November

Das neue, wunderbare Gefühl der vollkommenen Einheit. Ich muss es notieren, um nicht später einmal ungerecht zu sein. Nichts was geschehen könnte und geschehen wird, darf mich dieses Gefühl vergessen lassen. Wenn ich die Fähigkeit besäße, in Illusionen zu leben, würde ich behaupten, Gregor liebt mich, und das ist für ihn eine ebenso einschneidende Erfahrung wie für mich. Aber man darf nicht von sich auf den Partner schließen Das Gebiet der Liebe ist ohnehin das täuschendste und schillerndste. Man kann nur seiner selbst sicher sein, und das auch nur, wenn man nicht mehr allzu jung ist und Erfahrung besitzt. In der Jugend ist man ja einfach in die Liebe verliebt und nicht in den Partner, und die meisten Leute bleiben in diesem Stadium stecken. Diejenigen aber, die allmählich der Natur auf ihre Schliche kommen und nicht robust genug sind, mit dem Ekel vor dieser Erkenntnis im Herzen weiterzuspielen, sind in Zukunft vom Glück ausgeschlossen. Wäre mir Gregor nicht begegnet, befände ich mich noch jetzt in diesem Zustand, der zwar etwas Ehrliches und Kühles an sich hat, aber letzten Endes immer in Hochmut und Kälte ausarten muss.

Nun habe ich keine Veranlassung mehr, hochmütig zu sein, und werde sie auch nie mehr haben, denn wer ein einziges Mal sich an einen anderen verloren hat, wird nie mehr, der er zuvor war. Er bleibt zurück als ein Teil der verlorengegangenen Einheit, in Wahrheit untröstlich.


(...)


25. November

Man ist nicht blind, wenn man liebt, und sieht die Fehler des geliebten Menschen so deutlich wie die eigenen, und man fängt damit an, Liebe auf diese räudigen Stellen zu häufen. Aber immer wieder scheint das Übel durch. So geht es nicht, man muss anfangen, die Räude selbst zu lieben.


(...)


7. August

Irgendwo las ich einmal, der ungläubige Mensch sei nicht fähig zu lieben und müsse seine Liebesobjekte ständig wechseln. Das hat auf den ersten Blick etwas sehr Einleuchtendes. Muss man nicht an der Liebe verzweifeln, wenn man bedenkt, wie vergänglich und wertlos der geliebte Leib ist, der sich über kurz oder lang in ein Stück verwesendes Fleisch verwandeln muss? Wie leicht müsste es dagegen sein, eine unsterbliche Seele zu lieben, der etwas Derartiges nicht zustoßen kann. Aber beginnt nicht erst hier das Abenteuer der Liebe, die weiß, dass sie Unmögliches fordert in ihrer Maßlosigkeit? Sicherheit wäre das Ende der Liebe, deren Wesen darin besteht, den immer vorhandenen Tod für Minuten aufzuheben.

         
         
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