Leseproben aus: Joseph Heller, Catch 22



S. 54 ff., 200 f., 497 ff.



[1] Captain Yossarián erörtert mit Doc Daneeka, dem Stabsarzt, die Möglichkeit, als verrückt und damit kriegsuntauglich eingestuft zu werden. (S. 54 ff.)

[2] Das Lazarett als Ruhepunkt innerhalb des Irrsinns (S. 200 f.)

[3] Yossarián streift durch die nächtlichen Straßen Roms (S. 497 ff.)





[1]

Captain Yossarián erörtert mit Doc Daneeka, dem Stabsarzt, die Möglichkeit, als verrückt und damit kriegsuntauglich eingestuft zu werden. (S. 54 ff.)

»Du verschwendest nur deine Zeit«, mußte Doc Daneeka ihn aufklären.

»Kannst du denn nicht jemanden fluguntauglich schreiben, der den Verstand verloren hat?«

»Oh, gewiß doch. Ich muß sogar. Es gibt eine Vorschrift, die besagt, daß ich jeden Verrückten für fluguntauglich erklären muß.«

»Warum also nicht mich? Ich bin verrückt. Du brauchst nur Clevinger zu fragen.«

»Clevinger? Wo steckt Clevinger überhaupt? Bring mir Clevinger, und ich werde ihn fragen.«

»Du kannst auch jeden anderen fragen. Alle werden dir bestätigen, daß ich verrückt bin.«

»Die sind ja selber verrückt.«

»Warum schreibst du sie dann nicht fluguntauglich?«

»Warum bitten sie mich nicht darum?«

»Weil sie verrückt sind, deshalb.«

»Natürlich sind sie verrückt«, erwiderte Doc Daneeka. »Ich hab′ dir doch gerade gesagt, daß sie verrückt sind. Und du kannst doch nicht Verrückte darüber urteilen lassen, ob du verrückt bist oder nicht.«

Yossarián betrachtete ihn nüchtern und versuchte es auf einem anderen Weg. »Ist Orr verrückt?«

»Klar ist er verrückt«, sagte Doc Daneeka.

»Kannst du ihn fluguntauglich schreiben?«

»Klar kann ich das. Er muß aber erst darum bitten. So verlangt es die Vorschrift.«

»Warum bittet er dich denn nicht darum?«

»Weil er verrückt ist«, sagte Doc Daneeka. »Er muß einfach verrückt sein, sonst würde er nicht immer wieder Einsätze fliegen, obgleich er oft genug knapp mit dem Leben davongekommen ist. Selbstverständlich kann ich Orr fluguntauglich schreiben. Er muß mich aber erst darum bitten.«

»Mehr braucht er nicht zu tun, um fluguntauglich geschrieben zu werden?«

»Nein, mehr nicht. Er braucht mich nur zu bitten.«

»Und dann kannst du ihn fluguntauglich schreiben?« fragte Yossarián.

»Nein. Dann kann ich es nicht mehr.«

»Heißt das, daß die Sache einen Haken hat?«

»Klar hat sie einen Haken«, erwiderte Doc Daneeka. »Den X-Haken. Wer den Wunsch hat, sich vom Fronteinsatz zu drücken, kann nicht verrückt sein.«

Es war nur ein Haken bei der Sache, und das war der X-Haken. X besagte, daß die Sorge um die eigene Sicherheit angesichts realer, unmittelbarer Gefahr als Beweis für fehlerloses Funktionieren des Gehirns zu werten sei. Orr war verrückt und konnte fluguntauglich geschrieben werden. Er brauchte nichts weiter zu tun, als ein entsprechendes Gesuch zu machen; tat er dies aber, so galt er nicht länger mehr als verrückt und würde weitere Einsätze fliegen müssen. Orr wäre verrückt, wenn er noch weitere Einsätze flöge, und bei Verstand, wenn er das ablehnte, doch wenn er bei Verstand war, mußte er eben fliegen. Flog er diese Einsätze, so war er verrückt und brauchte nicht zu fliegen; weigerte er sich aber zu fliegen, so mußte er für geistig gesund gelten und war daher verpflichtet, zu fliegen. Die unübertreffliche Schlichtheit dieser Klausel der X beeindruckte Yossarián zutiefst, und er stieß einen bewundernden Pfiff aus.

»Das ist schon so ein Haken, dieser X-Haken«, bemerkte er.

»Einen besseren findest du nicht«, stimmte Doc Daneeka zu.


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[2]

Das Lazarett als Ruhepunkt innerhalb des Irrsinns (S. 200 f.)

Der Soldat in Weiß

Yossarián lief schnurstracks ins Lazarett, entschlossen, lieber bis in alle Ewigkeit dort zu bleiben, als auch nur einen Feindflug mehr als die zweiunddreißig zu machen, die er bereits hinter sich hatte. Zehn Tage, nachdem er seine Meinung geändert und das Lazarett verlassen hatte, setzte der Colonel die Anzahl der geforderten Feindflüge auf fünfundvierzig herauf, und Yossarián flüchtete sich wiederum ins Lazarett, entschlossen, lieber in alle Ewigkeit im Lazarett zu bleiben, als auch nur einen Feindflug mehr als die sechs Feindflüge zu machen, die er soeben absolviert hatte.

Yossarián konnte sich jederzeit, wenn er Lust dazu hatte, ins Lazarett flüchten. Das lag an seiner Leber und seinen Augen; die Ärzte vermochten sich über den Zustand seiner Leber nicht klarzuwerden und ihm auch nicht gerade ins Auge zu sehen, wenn er ihnen von seinen Leberbeschwerden erzählte. Es machte ihm Spaß, im Lazarett zu liegen, solange auf seiner Station nicht jemand auftauchte, der wirklich krank war. Seine Gesundheit war stabil genug, um die Malaria oder Influenza anderer Patienten ohne größere Beeinträchtigung zu ertragen. Er erlitt anderer Leute Mandeloperationen ohne irgendwelche postoperativen Beschwerden und ertrug sogar fremde Bruchleiden und Hämorrhoiden mit einem Minimum von Ekel und Widerwillen. Aber weiter durfte er nicht gehen, ohne fürchten zu müssen, wirklich krank zu werden. Kam es schlimmer, so ergriff er die Flucht. Im Lazarett konnte er sich ausruhen, denn man erwartete nicht von ihm, daß er etwas tue. Im Lazarett erwartete man von ihm einzig, daß er sterbe oder sein Befinden bessere, und da er schon bei der Aufnahme völlig gesund war, fiel es ihm nicht schwer, sein Befinden zu bessern.

Im Lazarett zu sein, war jedenfalls besser, als über Bologna oder über Avignon mit Huple und Dobbs als Piloten und dem sterbenden Snowden im Heck.

Im allgemeinen waren im Lazarett auch nicht annähernd so viele ungesunde Menschen, wie Yossarián außerhalb des Lazaretts umherlaufen sah, und es befanden sich im allgemeinen auch weniger Menschen im Lazarett, die ernstlich erkrankt waren. Das Lazarett hatte eine viel niedrigere Sterberate, vor allem aber eine gesündere Sterberate aufzuweisen als die Welt außerhalb des Lazarettes. Die Insassen des Lazarettes verstanden viel mehr vom Sterben und vollbrachten es auch adretter und ordentlicher. Auch im Lazarett vermochte man den Tod nicht zu beherrschen, immerhin hatte man ihm aber Manieren beigebracht. Man konnte den Tod nicht fernhalten, doch solange er drinnen war, hatte er sich anständig zu benehmen. Hier spürte man nichts von jener rohen, häßlichen Aufdringlichkeit des Sterbens, die außerhalb des Lazarettes so häufig anzutreffen war. Wer im Lazarett lag, explodierte nicht mitten in der Luft wie Kraft oder der tote Mann in Yossarians Zelt, er fror auch nicht an einem heißen Sommertag zu Tode, wie sich Snowden zu Tode gefroren hatte, nachdem er vor Yossarián im Heck der Maschine sein Geheimnis enthüllt hatte.

»Mir ist kalt«, hatte Snowden geklagt. »Mir ist kalt.«

»Nun, nun«, hatte Yossarián versucht, ihn zu beruhigen. »Nun, nun.« Im Lazarett verschwand man nicht einfach auf geisterhafte Weise in einer Wolke, wie Clevinger das getan hatte. Man verspritzte sich nicht als blutiges Geklumpe in die Gegend. Man ertrank nicht, wurde nicht vom Blitz getroffen, von Maschinen zermalmt oder unter Lawinen begraben. Man wurde nicht bei Raubüberfällen erschossen, von Sexualverbrechern erwürgt, in Kneipen erstochen, mit einer Axt von den Eltern oder Kindern erschlagen oder durch einen anderen göttlichen Gewaltakt vom Leben zum Tode befördert. Niemand erstickte. Man starb vornehm auf dem Operationstisch, oder hauchte kommentarlos unter einem Sauerstoffzelt seinen Geist aus. Hier gab es nicht das neckische Versteckspiel jetzt siehst-du-mich-und-jetzt-nicht-mehr, das außerhalb des Lazarettes so beliebt war, nichts von Kuckuck-hierbin-ich-nicht-mehr. Es gab keine Hungersnot und kein Hochwasser. Kinder erstickten nicht in Wiegen oder Kühlschränken, sie fielen auch nicht von Lastwagen. Niemand wurde zu Tode geprügelt. Man steckte den Kopf nicht in den Gasherd, warf sich nicht vor die V-Bahn und kam auch nicht wie ein Bleiklumpen schschsch mit einer Beschleunigung von sechzehn Fuß pro Sekunde aus dem Hotelfenster gestürzt, um mit gräßlichem Platsch auf dem Bürgersteig zu landen und vor aller Augen einen widerwärtigen Tod zu sterben, wie ein mit haarigem Erdbeereis gefüllter Baumwollsack, blutend und mit abgespreizten, rosigen Zehen.


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[3]

Yossarián streift durch die nächtlichen Straßen Roms (S. 497 ff.)

Yossarián verließ das Büro und ging die Treppen hinunter. Ehe er die dunkle, gruftähnliche Straße betrat, traf er auf das feiste Weib mit den Warzen und dem Doppelkinn, das bereits wieder auf dem Weg zum Präsidenten war. Von Milo keine Spur. Nirgends war ein Fenster erleuchtet. Der verlassene Burgersteig stieg etliche Häuserblocks weit steil an. Am Ende der langen, gepflasterten Steigung sah er die grellen Lichter eines Boulevards. Das Polizeipräsidium befand sich fast auf dem Grunde; die gelben Glühbirnen über dem Eingang zischten in der Feuchtigkeit wie nasse Fackeln. Ein erkältender Sprühregen ging nieder. Yossarián setzte sich bedächtig bergauf in Bewegung. Bald gelangte er an ein stilles, trauliches, einladendes Restaurant, dessen Fenster mit roten Samtportieren verhängt waren und über dessen Tür eine blaue Leuchtschrift verkündete: Tonys Restaurant. Gute Küche. Erstklassige Getränke. Draußenbleiben. Die blaue Leuchtschrift überraschte ihn nur wenig und nicht für lange. Jedwede Bösartigkeit schien ihm zu seiner fremdartigen, entstellten Umgebung zu passen. Die Dächer der steil aufragenden Häuser win-kelten sich in einer gespenstischen, surrealistischen Perspektive, und die Straße schien auf der Kippe zu stehen. Er schlug den Kragen seines warmen wollenen Mantels hoch und schmiegte sein Gesicht hinein. Die Nacht war rauh. Aus der Dunkelheit kam barfüßig ein Junge hervor, der ein dünnes Hemd und fadenscheinige, abgewetzte Hosen trug. Der Junge hatte schwarze Locken, er benötigte dringend einen Haarschnitt, Schuhe und Strumpfe. Das kränkliche Gesicht war blaß und traurig. Während er vorüberging, machten die Fuße gräßliche, weiche, saugende Geräusche in den Pfützen auf dem nassen Pflaster, und Yossarián wurde so von Mitleid mit dieser Armut übermannt, daß er das bleiche, traurige, kränkliche Gesicht gerne zu Brei geschlagen und es damit aus der Welt geschafft hätte, denn dieser Junge rief ihm die bleichen, traurigen, kränklichen Gesichter all der Kinder Italiens ins Gedächtnis, die ebenfalls einen Haarschnitt, Schuhe und Strumpfe benötigten. Er ließ Yossarián an Krüppel, an frierende und hungernde Männer und Frauen denken, an all die stummen, ergebenen, frommen Mutter mit katatonischen Augen, die kalte, tierische Euter bloßlegten und, unempfindlich gegen den eisigen Sprühregen, ihre Säuglinge im Freien nährten. Fast wie aufs Stichwort patschte eine nährende Mutter vorbei, die einen in schwarze Lumpen gewickelten Säugling trug, und Yossarián hätte auch sie liebend gerne zusammengeschlagen, denn sie erinnerte ihn an den barfüßigen Jungen in dem dünnen Hemd und den fadenscheinigen, abgewetzten Hosen, und an all das vor Kälte zitternde, bestürzende Elend einer Welt, der es noch nie gelungen war, mehr als einer Handvoll geriebener skrupelloser Individuen genügend Wärme, Nahrung und Gerechtigkeit zu schaffen. Was für eine jämmerliche Welt! Er fragte sich, wie viele Menschen in dieser Nacht wohl in seinem eigenen, reichen Land mittellos sein mochten, wie viele traute Heime nichts weiter waren als Schuppen, wie viele Ehemänner betrunken sein, wie viele Frauen geprügelt, wie viele Kinder angebrüllt, mißbraucht oder ausgesetzt werden mochten. Wie viele Familien hungerten nach Nahrung, die sie nicht bezahlen konnten? Wie viele Herzen wurden gebrochen? Wie viele Selbstmorde mochten in dieser Nacht stattfinden, wie viele Menschen wahnsinnig werden? Wie viele Wanzen und Vermieter würden triumphieren? Wie viele Gewinner waren Verlierer, wie viele Erfolgsmenschen Nieten, wie viele Reiche waren Arme? Wie viele Schlaumeier waren Blödiane? Wie oft war Ende gut Ende schlecht? Wie viele ehrliche Männer waren Lügner, wie viele Tapfere Feiglinge, wie viele treue Männer Verräter und heiligmäßige Menschen verderbt, wie viele Menschen in Vertrauensstellungen mochten ihre Seele für Geld verkauft haben, und wie viele von ihnen hatten überhaupt je eine Seele besessen? Wie viele gerade Wege waren in Wahrheit krumme Wege? Wie viele gute Familien waren schlechte Familien, und wie viele anständige Leute waren üble Subjekte? Wenn man alles zusammenzählte und dann subtrahierte, blieben am Ende nur die Kinder übrig und vielleicht noch Albert Einstein und irgendwo ein alter Geiger oder Bildhauer. Yossarián wandelte einsam und niedergedrückt dahin, er fühlte sich entfremdet und konnte das quälende Bild des barfüßigen Jungen mit dem kränklichen Gesicht nicht loswerden, bis er endlich um die Ecke in den Boulevard einbog und auf einen Soldaten der Verbündeten Truppen stieß, einen jungen Leutnant mit schmalem, blassem, kindlichem Gesicht, der sich in Krämpfen am Boden wand. Sechs Soldaten aus sechs verschiedenen Ländern hielten ihn jeder an einem anderen Körperteil gepackt und mühten sich, ihm zu helfen und ihn stillzuhalten. Er geiferte und ächzte unverständliches Zeug durch fest zusammengepreßte Zähne und verdrehte die Augen. »Paßt auf, daß er sich nicht die Zunge abbeißt«, riet ein kleingewachsener Sergeant neben Yossarián weise, und darauf warf sich ein siebenter Soldat in das Getümmel, um mit dem Gesicht des kranken Leutnants zu kämpfen. Plötzlich war die Schlacht für die Hilfs-truppen entschieden. Sie sahen einander unentschlossen an, denn nun, da sie den jungen Leutnant in ihrer Gewalt hatten, wußten sie nicht, was mit ihm tun. Ein Beben idiotischer, ratloser Angst sprang von einem brutal verzerrten Gesicht zum nächsten über. »Warum hebt ihr ihn nicht auf und legt ihn auf die Kühlerhaube von dem Wagen dort?« nuschelte ein Korporal, der hinter Yossarián stand. Das schien ein guter Rat, und so hoben die sieben den jungen Leutnant auf und legten ihn behutsam auf der Kühlerhaube des Autos ab, wobei sie sorgsam seine strampelnden Glieder festhielten. Kaum hatten sie ihn dort gebettet, als sie einander auch schon wieder unsicher anzusehen begannen, denn sie wußten nicht, was nun zu tun sei. »Warum nehmt ihr ihn dort nicht weg und legt ihn auf die Erde?« ließ sich der gleiche Korpo-ral nuschelnd hinter Yossarián vernehmen. Das schien ein guter Einfall, und sie machten sich daran, den Leutnant auf den Bürgersteig zu tragen, doch ehe sie damit fertig waren, kam ein Jeep mit rotblinkenden Scheinwerfern herangebraust, in dem Militärpolizisten saßen.

»Was ist hier los?« schrie der Fahrer.

»Er hat Krämpfe«, erwiderte einer der Männer, die den Leutnant festhielten. »Wir halten ihn ruhig.«

»Sehr gut. Er ist verhaftet.«


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