Leseproben aus: Siegfried Lenz, Schweigeminute



S. 66 ff., 121 f.



[1] Christian hat nach dem Ende der Gedenkminute Stellas Foto heimlich an sich genommen (S. 66 ff.)

[2] Stellas Seebestattung (S. 121 f.)





[1]

Christian hat nach dem Ende der Gedenkminute Stellas Foto heimlich an sich genommen (S. 66 ff.)

Allein, allein in meinem Klassenzimmer saß ich vor offener Schublade und betrachtete Stellas Bild; ich nahm mir vor, ihr zu erzählen, was sie noch nicht von mir wußte, auch von dem Unglück an einem Wellenbrecher wollte ich ihr erzählen, das beinahe geschah, als ich unter Wasser war, um die Lage der Steine zu überprüfen, und ein mächtiger Findling sich aus dem Greifer über mir löste und mich erwischt hätte, wäre da nicht die Druckwelle gewesen, die mich zur Seite schleuderte.

So leise, daß ich es nicht hörte, wurde die Tür geöffnet, Heiner Thomsen rief: »Da bist du«, und kam rasch zu mir. Er hatte mich im Auftrag von Block gesucht, der Direktor wollte mich sprechen, gleich. »Weißt du, was er von mir will?« »Keine Ahnung.« »Wo ist er?« »Wo er immer ist.« Ich schloß die Schublade, langsam stieg ich die Treppe hinab zu Blocks Zimmer im Parterre. Er kam mir nicht entgegen; hinter seinem Schreibtisch sitzend, forderte er mich durch ein Zeichen auf, näher heranzutreten. So, wie er mich musterte - dieser durchdringende, abfragende Blick -, war mir sogleich klar, daß er etwas Besonderes von mir erwartete. Ich empfand es als demütigend, mich so lange schweigend stehenzulassen. Seine schmalen Lippen bewegten sich, er schien etwas vorzuschmecken, schließlich sagte er: »Offenbar wollten Sie unsere Gedenkstunde auf eigene Art beenden.« »Ich?« »Sie haben das Photo von Frau Petersen an sich genommen.« »Wer behauptet das?« »Mehrere haben es gesehen. Sie haben beobachtet, wie Sie das Photo an sich nahmen und, unter Ihrem Pullover verborgen, mitgehen ließen.« »Das muß ein Irrtum sein.« »Nein, Christian, es ist kein Irrtum, und nun bitte ich Sie, mir zu sagen, warum Sie es getan haben, Frau Petersen war Ihre Englischlehrerin.« Ich war bereit, zuzugeben, daß ich Stellas Bild mitgenommen hatte, doch vor seinem Schreibtisch stehend fiel mir kein Grund ein, den ich ihm hätte anbieten können, zumindest nicht den Grund, der allein mich handeln ließ. Nach einer Pause sagte ich: »Gut, ich gebe zu, daß ich das Photo mitgenommen habe, ich wollte nicht, daß es irgendwo verschwindet, ich wollte es als Andenken an meine Lehrerin bewahren, alle in meiner Klasse haben sie geschätzt.« »Sie aber, Christian, Sie wollten das Photo für sich allein haben, nicht wahr?« »Das Photo soll im Klassenzimmer stehen«, sagte ich. Mit spöttischem Lächeln nahm er das zur Kenntnis, dann wiederholte er: »Im Klassenzimmer also. - Warum nicht in der Aula, auf dem Bord, auf dem die Porträts mehrerer ehemaliger Mitglieder unseres Kollegiums zu finden sind, warum nicht dort?« »Das kann ich machen«, sagte ich, »das kann ich gleich machen.« Jetzt sah Block mich sehr ernst an, und ich mußte glauben, daß er mehr wußte, als ich annahm, obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, wie weit sein Wissen reichte oder wessen er mich verdächtigte. Nichts macht mir so zu schaffen, wie einem unbestimmten Verdacht ausgesetzt zu sein. Um unser Gespräch zu beenden, schlug ich ihm vor, sofort zu tun, was er wünschte: »Wenn Sie einverstanden sind, Herr Doktor, bringe ich das gleich in Ordnung, das Photo kommt dorthin, wo Sie es haben möchten.« Er nickte, ich war entlassen. Ich war schon an der Tür, als er mich noch einmal zurückrief, über mich hinweg sprechend sagte er: »Was wir verschweigen, Christian, ist mitunter folgenreicher als das, was wir sagen. Verstehen Sie, was ich meine?« »Ich hab verstanden«, sagte ich und beeilte mich, Stellas Photo an den gewünschten Platz zu bringen.

Wieder, Stella, trug ich dein Photo unter dem Pullover, auf meinem Weg zur Aula gab ich keine Antworten, wich Begegnungen aus. Das Bord war nicht vollständig besetzt, sechs Bilder ehemaliger Lehrer standen da, ausnahmslos alte Männer, nur einem traute man zu, Sinn für Humor zu haben, einem Pädagogen in Marineuniform, der zwei gekreuzte Signalflaggen vor seiner Brust hielt. Biologie soll er gegeben haben, lange vor meiner Zeit. Zwischen ihn und ein kantiges Gesicht stellte ich Stellas Photo, es kam mir nicht in den Sinn, die Nachbarschaft zu bewerten. Du hattest deinen Platz, und das genügte mir vorerst.

Bei deinem Anblick holte ich mir zurück, was ich brauchte oder zu brauchen glaubte, das plötzliche Glück einer Berührung, die Freude, die nach Wiederholung verlangte. Ich war mir in diesem Augenblick sicher, daß ich dieses Photo von dir gebraucht hätte, für mich allein. Diese Helligkeit am Strand, diese blendende Helligkeit an dem Sonntag, an dem ich auf Stella wartete, in dem VW-Käfer, den Claus Bultjohan mir geliehen hatte, ein Cabriolet, das seinem Vater gehörte. Sein Vater war fürs Fernsehen unterwegs in Skandinavien, er drehte dort einen Kulturfilm über die Lappen, die das erstaunliche Recht hatten, als Nomaden über die russische Grenze zu ziehen. Nach meinem Besuch bei ihr zu Hause hatte ich gar nicht erst versucht, mich mit Stella zu verabreden; da ich wußte, daß sie bei diesem verläßlichen Sommerwetter allein an den Strand ging, um zu lesen oder in der Sonne zu liegen, beschloß ich, auf sie zu warten, weit genug weg von dem Haus, in dem sie wohnte. Im Auto hörte ich Benny Goodman. Sehr langsam fuhr ich hinter ihr her, sie trug ihr buntes Strandkleid, blau und gelb, an einem Schulterriemen hing die Strandtasche. Sie ging rasch und selbstbewußt; noch vor dem Kiosk, in dem sie Räucherfisch und Zeitschriften verkauften, hielt ich abrupt neben ihr, sah den Unwillen in ihrem Gesicht, sah aber sogleich, wie dieser Ausdruck abgelöst wurde von überraschung und Staunen. »Ach, Christian«, sagte sie nur, ich öffnete die Tür, und nach einem Moment des Zögerns stieg sie ein.


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[2]

Stellas Seebestattung (S. 121 f.)

Wie behutsam der alte Bordfunker die Urne umfaßte, er hielt sie dicht an seinem Körper und trug sie zum Heck, und hier öffnete er sie auf ein Zeichen des Pastors, öffnete sie und hob sie außenbords. Ich mußte glauben, Stella, daß es eine dünne Aschenfahne war, die sich von der Urne löste, nur ein wenig aufwehte und gleich niedergedrückt wurde auf das Wasser. Schnell nahm das Wasser die Asche auf, keine Spur blieb, kein Beweis, nur ein lautloses Verschwinden wurde ahnbar, eine Grammatik des Abschieds. Obwohl er stand und stand und auf das Wasser starrte, blieb auch für deinen Vater nichts anderes zu tun, er ergriff einen der Kränze, er ließ ihn nicht einfach fallen, sondern schleuderte ihn hinaus, mit einer Kraft, die mich erstaunte. Nach ihm nahmen andere die Sträuße auf und warfen sie ins Wasser, meist gebundene Sträuße, unser Sportlehrer und zwei aus dem Lehrkörper öffneten die Sträuße und ließen die Blumen einzeln neben der Bordwand fallen, wo sie eine sehr leichte Strömung erfaßte, mir kam es so vor, als ginge ein Leuchten von ihnen aus, während sie gewiegt wurden auf dem bewegten Wasser. In diesem Augenblick wußte ich, daß diese treibenden Blumen für immer zu meinem Unglück gehören würden und daß ich niemals würde vergessen können, wie tröstlieh sie meinen Verlust bebilderten.

Es gab keinen Zweifel: Die Blumen trieben auf die Vogelinsel zu, bald würden sie dort angeschwemmt werden an dem nur selten begangenen Strand; ich werde euch einsammeln, dachte ich, ich werde allein herkommen und euch davor bewahren, wie Tang zu faulen, den eine unruhige See losgerissen hat, ich werde die Blumen in die Hütte des Vogelwarts bringen und dort zum Trocknen auslegen, sie werden immer dasein an diesem Ort der Mitwisserschaft, alles wird dasein und bleiben. Ich werde mich dort einrichten in den Ferien und auf der Liege aus Seegras schlafen, im Schlaf werden wir nah aneinander heranrücken, Stella, deine Brust wird meinen Rücken berühren, ich werde mich dir zudrehen und dich streicheln, alles, was Erinnerung aufgehoben hat, wird dann wiederkehren. Was Vergangenheit ist, ist dennoch geschehen und wird fortdauern, und begleitet von Schmerz und einer zugehörigen Angst werde ich versuchen, das zu finden, was unwiederbringlich ist.


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