Leseprobe aus: S. Márai, Die Nacht vor der Scheidung


Kapitel 6, S. 76 ff.


(Der junge Jurist Christoph Kömüves lernt seine Frau, Hertha von Wiesmayer, kennen)


Sein erster Blick fiel auf die junge Frau, die mit zwei älteren Damen an einem Tisch unmittelbar neben dem Eingang saß, gerade seinem Tisch gegenüber. Nach dem Essen ging er zu ihr, stellte sich vor und bat sie wegen seines Benehmens um Verzeihung. Hertha lächelte, und dann gingen sie durch den Garten des Restaurants zum See hinab und spazierten lange am Seeufer.

Genau konnte er sich später nicht mehr daran erinnern, was sie gesprochen hatten, jedoch hatte Christoph damals das Gefühl, zum erstenmal mit einem menschlichen Wesen Worte zu wechseln; ohne Bedenken konnte er reden, so unmittelbar wie das Kind, das mit der Amme spricht - mit jener Hingabe ohne Vorbehalt. Er suchte nicht nach Worten, wie er dies sonst tat, er sprach nachlässig, es war alles schon längst abgefasst in ihm, nun konnte er es endlich einem Menschen mitteilen. Hertha warf kurze Antworten dazwischen, nickte zustimmend wie jemand, der genauso denkt und lebt. Mit der Sicherheit des eingeweihten Gefährten erkundigte sie sich nach Einzelheiten; auch in ihren Gesten stimmten sie überein - wie Menschen, die einander schon sehr lange kennen.

Diese Vertrautheit war erschreckend wie ein Naturereignis. Ab und zu schwiegen sie und sahen vor sich hin, als wollten sie feststellen, was mit ihnen geschah. Zeitweise blieben sie stehen, und manchmal nahm er einfach und fraglos ihren Arm, ohne jegliche verliebte Absicht, wie man einen Verwandten beim Arm nimmt, den man länger nicht gesehen hat. An ihre Gefühle rührten sie an diesem Abend nicht. Christoph erzählte von seiner Kindheit, von seinem Beruf. Hertha sagte verwundert: »Richter!« Sie dehnte beim Sprechen die Selbstlaute, als sänge sie. Ob es sich in Buda zu leben lohne, wann er, Christoph, wieder nach Hause fahre, wo Hertha den Herbst verbringe.

Im Hotelzimmer sank Christoph sofort ins Bett und schlief erschöpft ein, mit dem Gefühl, dass nun alles gut geworden sei - dass er endlich hatte sprechen können - es war ein erleichterter, etwas schwindelerregender Seelenzustand -, und er schlief tief und traumlos.

Nach drei Tagen hielt er um Herthas Hand an. Man telegrafierte dem General nach Wien. Der Vater kam in jagender Hast, in Zivil, schlecht gelaunt -verstimmt. Die Zeit verstimmte ihn wie die meisten Menschen seiner Generation. Christophs Vater war an der Kränkung gestorben, die der General trotzig erduldete. Er gehörte zu jenen Menschen, die kein Blatt vor den Mund nehmen, war Mitglied einer rechtsextremen politischen Partei, schimpfte lärmend über den Geist, die Einrichtungen und die Beamten der Republik und verbreitete jene von Gewalt erfüllte Atmosphäre um sich, die geeignet ist, Kellner, Briefträger und Eisenbahnschaffner stutzig zu machen. Christoph erkannte den General rasch, blickte ihm ruhig in die Augen und wusste, dass er selbst der Stärkere war.

Das tadellose Benehmen und das bescheidene, aber selbstsichere Auftreten des jungen ungarischen Richters versetzten Wiesmayer während der ersten Tage in Abwehrstimmung. Er redete sehr herablassend über die Ungarn, die zwar gute Soldaten, im Zivilleben aber etwas eingebildet und untüchtig seien, und er erzählte Kriegs-Anekdoten in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Christoph hörte ihm höflich-reserviert zu. Gegen des Richters Person und Herkunft konnte der General nichts einwenden, und als er um Herthas Hand anhielt, gewährte sie ihm der Vater mürrisch, mit einer Stimme, die rauh vor Erregung war.

Hertha war stärker als der General, sie behandelte ihn höflich und gelassen, mit Überlegenheit und sehr geduldig. Die Frau des Generals litt seit Jahren an klimakterischen Kopfschmerzen und nahm am Familienleben nur teil, wenn sie sich zwischen zwei Anfällen ohne kalten Umschlag aus ihrem verdunkelten Zimmer wagen konnte. In der ersten Zeit kämpfte diese Frau mit einer heftigen, beinahe schwärmerischen Hingabe um Christophs Zuneigung. Ihr Verhalten, das in all seiner Harmlosigkeit einer verliebten Schwärmerei sehr ähnlich war, wandelte sich nach der Heirat plötzlich in die Tonart der eifersüchtigen Schwiegermutter. »Mama ist verliebt«, lächelte Hertha, »das ist deine gefährlichste Eroberung! Sie ist in dem Alter, in dem der Mensch die Hoffnungslosigkeit seiner Gefühle noch schwer erträgt. Mach ihr den Hof, Christoph!«

Derlei Bemerkungen waren Christoph äußerst peinlich. Hertha konnte über die schwierigsten und kompliziertesten Dinge ruhig und lächelnd reden, sie nannte alles beim Namen - nicht mit derben, aber mit gewählten und sehr genauen Worten. Sie sprach immer aus, worüber die meisten Menschen, einer geheimen Vereinbarung zufolge, zu schweigen pflegten. Eine Tochter hätte doch von ihrer Mutter nicht behaupten dürfen, dass sie in den Schwiegersohn verliebt sei! Aber Hertha hatte keine Angst vor solchen Aussagen, und beinahe überrascht stellte Christoph fest, dass Hertha gescheit war. Natürlich hatte er niemals geglaubt, dass sie einfältig oder borniert sei, aber diese energische und eigenwilligevKlugheit hatte er nicht in ihr vermutet. Es war ihm, als hätte er plötzlich irgendein körperliches Merkmal an ihr entdeckt, das ihm bisher verborgen geblieben war, als hätte sich eine weiße Locke in ihre schimmernden kastanienfarbenen Haarflechten geschlichen oder als hätte die Farbe ihrer Augen gewechselt.

Manchmal beunruhigte ihn diese Gescheitheit. Hertha verkehrte vom ersten Augenblick an mit ihm wie jemand, der älter ist, wie jemand, der sein Wissen sehr vorsichtig und pädagogisch wohlüberlegt dem Gefährten mitteilt. Sie hörte seine moralischen, sozialen und politischen Betrachtungen mit wohlwollendem Ernst an, nickte manchmal, als wollte sie sich mit Unabänderlichem abfinden, und lächelte geduldig. Manchmal brauste Christoph auf und protestierte gegen dieses Lächeln; gleichzeitig aber spürte er, dass sie für ihn einstand und mit diesem Lächeln ihre Zustimmung gab, dass es nicht kecke Überlegenheit bedeutete, sondern die Überlegenheit des praktischeren und wissenderen Gefährten.

Nun war die Reihe an ihm, diese Überlegenheit zu ertragen. Ja, sicherlich musste auch Hertha ertragen werden, aber nicht wie irgendeine süße Last, auch nicht wie jemand, der Kömüves' Leben mit seiner Eigenart und seinen Ansichten beschwert hätte; Hertha war ihm sehr verwandt und unzweifelhaft jenes Weib, das ihm zugehörte. Manchmal dachte er, er hätte um sie wissen müssen, auch wenn sie in einem fremden Lande gelebt hätte und ihm nie begegnet wäre. Vielleicht hätte er sie dann ewig gesucht, gerade sie. Solche romantischen Vorstellungen überkamen ihn manchmal.

Nach der Anfangseile ihrer Verlobung wäre eine baldige Hochzeit selbstverständlich gewesen. Es währte aber länger als sechs Monate bis zur Trauung in der Kirche von Buda. Dieses halbe Jahr verbrachte Hertha noch bei ihren Eltern in Wien, und Christoph fuhr an jedem ersten und dritten Samstag des Monats mit dem Wochenendschiff zu ihr hinauf. In seiner Zeiteinteilung war er ein wenig pedantisch. Hertha musste zur Kenntnis nehmen, dass Christoph zu einem genau festgelegten Zeitpunkt eintraf, nicht früher und nicht später. Auch wenn ihn eine heftige Sehnsucht nach ihr befiele, auch wenn sie krank würde oder ein unerwartetes amtliches Ereignis ihm einen Urlaub verschaffen würde, könnte dies nichts an dem festgelegten Termin ändern.

Hertha bat ihn, sie manchmal anzurufen. Christoph jedoch, der in Geldangelegenheiten eher freigebig als kleinlich war, hielt ein Ferngespräch für Verschwendung und rief sie nie an. Bräutigam zu sein war für ihn eine sehr feierliche und ernste Angelegenheit. Für ihn war das nahezu identisch mit einer neuen, mit Repräsentationskosten verbundenen bürgerlichen Stellung - bei seiner Braut erschien er nie ohne großen Blumenstrauß, und auch sonst überhäufte er sie mit Geschenken. Er kaufte ihr auch einen wertvollen Diamantring, den Hertha mit selbstsicherem Lächeln, jedoch ein wenig widerstrebend, an den Finger steckte und verwundert betrachtete. Den Ring, aber auch die Bonbonnieren und Blumensträuße, überreichte er ihr stets ernst und feierlich, als leiste er bei jeder Gelegenheit wieder den Eid, seine ehelichen, menschlichen und staatsbürgerlichen Pflichten erfüllen zu wollen. Hertha lachte ihm manchmal ins Gesicht, verneigte sich tief vor ihm und sprach ihn mit seinem vollen amtlichen und akademischen Titel an. Dann errötete er und stand demütig-korrekt und traurig vor ihr wie einer, der weiß, dass der Spott berechtigt ist, und deshalb um Entschuldigung bittet - aber doch nicht anders handeln kann.

Die Zeit ihrer Verlobung verging im Zeichen eines ungeduldigen, bis in die Nacht hineinreichenden Gesprächshungers. Es war dies die fieberhafte, entschlossen-aufrichtige Offenbarung zweier Seelen - der Körper schien zu schweigen. Sie küssten einander selten und unterließen es auch meist nach einigen ungeschickten und linkischen Versuchen. Sie küssten einander wohl eher aus Pflichtgefühl, als gehörten diese körperlichen Annäherungsversuche zu dem offiziellen Zustand, in den sie durch die weltliche Ordnung versetzt worden waren. Die Stunde, sich auch körperlich kennenzulernen, war noch nicht gekommen, und es war auch ungewiss, ob die Eheschließung diesen Augenblick körperlicher Nähe sofort herbeiführen würde. Man musste aufeinander warten!

Christoph war Hertha gegenüber sehr zurückhaltend - vielleicht lag diesem Verhalten durchaus nicht die Enthaltsamkeit des vorbildlichen bürgerlichen Bräutigams zugrunde, der sich weigerte, Vorschüsse auf das eheliche Glück einzufordern, sondern vielmehr eine scheue, sehr aufrichtige, mit seinem Wesen übereinstimmende Keuschheit.

Hertha verstand ihn und beruhigte ihn schweigend mit ihren Blicken und ihrem Benehmen. Ja, sie verstand ihn und hegte ähnliche Gefühle. Sie nahmen jeder des anderen Körper leidenschaftslos zur Kenntnis, führten aber eifrige Gespräche, in denen Unruhe und Neugierde mitschwangen. Der Mut, mit dem Hertha sich jeder menschlichen, weltlichen und metaphysischen Frage stellte, erschütterte Christoph. Sie begnügte sich nicht mit Formeln und festgefügten Begriffen, sie setzte Christoph erbarmungslos unter Druck, wollte alles wissen und in jedem dunklen Winkel der Seele des Gefährten Klarheit schaffen, auch dort, wo Christoph sich nicht umsehen wollte, weil ein Gespräch darüber sich nicht ziemte.