Marie, Ausschnitt 2

Aus "Marie, Engel der Grenze" I. Teil, Kapitel 4







Ulla hatte die schönen Tage für den zweiten Heuschnitt genutzt. Neben der Arbeit mit dem Saatgut bewirtschaftete sie ein paar Hektar Grünland für ihre drei Kühe. Zwei Tage, nachdem Marie wiedergekommen war, stand die große Aktion an: Das trockene Heu musste gepresst, aufgeladen, in die Scheune gefahren und auf den Heuboden geschafft werden. Für diese Arbeitsgänge brauchte Ulla sämtliche Hände, die auf dem Hof zur Verfügung standen. Als sie mit dem ersten Wagen voll hoch aufgestapelter Heuballen auf den Hof fuhr, standen wir alle bereit.

Den Heuboden hatte Ulla erst im Frühjahr neu in die Scheune einziehen lassen. Sie hatte eine Seite des hohen alten Gebäudes zum Laufstall für die Kühe umgebaut, mit Fressgitter davor und Balkendecke darüber. Dort hinauf, etwa zweieinhalb Meter über dem Fußboden, wo schon das Heu vom ersten Schnitt lag, sollten die Ballen hin. Bis unter das Dach waren es, der Schräge folgend, zwischen drei und sechs Meter, die als Stapelhöhe zur Verfügung standen. Wir beratschlagten kurz, wie wir uns aufteilen wollten. Ullas Heuballen waren von der kleinen, früher üblichen Sorte und wegen des geringen Gewichts leicht zu werfen. Wir waren zehn: Ulla, ihr Mann Herbert, der sich den Nachmittag frei genommen hatte, Marie, Manuel, Tom, Bettina, Elisabeth, Sven vom Nachbarhof und ich. Felix und Katja nicht zu vergessen: dass sie ihre Plätze ganz oben auf dem Heuboden hatten, war ohnehin klar.

Es war heiß in der Scheune, wir kamen alle angeschwitzt von irgendeiner Arbeit. Es roch nach Hochsommer auf dem Land, Heustaub flirrte durch die Luft, alle waren bester Laune. Herbert und Sven fuhren mit Ulla zum zweiten Mal auf die Wiese, wir anderen blieben in der Scheune, um den ersten Hänger abzuladen. Wir entschieden, dass zwei von uns die Ballen auf den Boden hinauf werfen sollten und die übrigen nach oben gingen, um sie dort zu stapeln. Wer blieb unten, wer kletterte hinauf? Ich stand drei Schritte neben Marie und rief ihr zu: "Na, kommst du mit mir ins Heu?"

Der Teufel ritt mich, einen solch blöden Spruch zu reißen, aber bevor ich zum Denken kam, war er schon heraus. Die anderen konnten nicht hören, was ich gesagt hatte, zu viel Lärmen und Lachen stob durch die weite Scheune. Hätte ich mit Zuhörern rechnen müssen, so hätte ich wahrscheinlich an mich gehalten, aber so, unbelauscht von Dritten, wurde die Lust, meine geheimen Sehnsüchte in Worte zu fassen, plötzlich so unendlich viel größer als alle Bedenken um Anstand oder Moral. Und sie war viel schneller. Ich durchlebte einen bangen Bruchteil eines Augenblicks, in dem ich ihre Reaktion erwartete. Und dann ging alles so schnell: während die Sonne in Streifen tanzenden Heustaubs durch die breiten Dachluken auf ihr Haar fiel und es hell aufleuchten ließ, lachte Marie mich an, machte eine rasche unbestimmte Bewegung, die ein Kopfnicken hätte sein können und gab dabei einen kleinen, kaum hörbaren Laut von sich, mit dem sie mir, wie mir schien, eine freudige, fröhliche Zustimmung zuwarf, und aus ihren hellen Augen sprang mich ein Funkenfeuerwerk an, dass ich mich wie vom Blitz geblendet fühlte und mir der Boden unter den Füßen zitterte. Tausendmal schneller als mein Verstand es fassen konnte, fuhren mir die Funken ins Herz und steckten mit lustvoller Gewalt jede Faser in mir in Brand, und in der nächsten Sekunde stand ich mitsamt allem Heu und der ganzen Scheune in lodernden Flammen.