Leseproben aus: William Maxwell, Also dann bis morgen



S. 48 ff., 108 ff., 156 ff.



[1] Der Erzähler durchforscht alte Zeitungen, in denen über den Mord berichtet wurde (S. 48 ff.)

[2] Lloyd Wilson und Fern Smith (Clarence' Frau) haben ein Verhältnis miteinander, Wilsons Frau ahnt etwas. (S. 108 ff.)

[3] Der Erzähler, 50 Jahre später, in seiner Heimatstadt (S. 156 ff.)






[1]

Der Erzähler durchforscht alte Zeitungen, in denen über den Mord berichtet wurde (S. 48 ff.)

Es gab noch einen anderen Aspekt des Falles, den zu berücksichtigen sich der Courier verpflichtet fühlte. Im Frühjahr des Jahres vor seinem Tod wurde Lloyd Wilson von seiner Frau verlassen; sie nahm ihre vier Töchter mit, von denen die jüngste ein elf Monate alter Säugling war, und zog in die Stadt. Sie ließ sich nicht von ihm scheiden, sondern erwirkte die gesetzliche Trennung von Tisch und Bett. Aufgrund dieser Abmachung mußte er ihr 9000 Dollar zahlen, was 1921 eine Menge Geld war. Das neue Haus meines Vaters kostete einschließlich des Baulandes nur 12000 Dollar. Die Abfindung, die Lloyd Wilson seiner Frau zahlte, ist vielleicht sein ganzes Geld gewesen.

Ich weiß nicht, wie sie ausgesehen hat. Die meisten Farmersfrauen ihres Alters hatten harte Arbeit und häufiges Kinderkriegen gleichermaßen ausgelaugt. Ich mutmaße – wie die Leute zu sagen pflegten, als ich noch ein Kind war –, ich mutmaße, das traf auf Lloyd Wilsons Frau und nicht auf Cletus' Mutter zu, aber es gibt keinen Beleg für meine Annahme, und die simple Wahrheit ist, daß zwar in Liebesromanen viel Aufheben um die weibliche Schönheit gemacht wird, die Leidenschaft aber ohne sie auskommt. Platos Idee, daß Liebende ursprünglich ein einziges Wesen waren, dessen zwei Hälften getrennt wurden und sich danach sehnen, wieder vereint zu werden, taugt als Erklärung ebenso wie jede andere für etwas, was ein Außenstehender nie und nimmer vollkommen verstehen kann.

Namen und Alter der Wilson-Kinder standen in der Zeitung, Namen und Alter der Kinder von Clarence Smith, wie der Zufall es wollte, nicht. Cletus' Mutter war Waise und von einer Tante und einem Onkel in der Stadt großgezogen worden. Als sie Cletus' Vater verließ, kehrte sie in das Haus zurück, in dem sie aufgewachsen war. Der Courier-Herald gibt die Adresse an, und ich bat meinen Cousin nachzusehen, ob es noch ein Haus unter dieser Anschrift gebe. Er schrieb mir zurück, es gebe eines und es gehöre zu einer Reihe von Holzhäusern gegenüber dem Rummelplatz. Etwas heruntergekommen, schrieb er, und weiß gestrichen so wie eine Menge anderer kleiner Häuser in der Stadt.

Was die Zeitung mit »Entfremdung« umschreibt, trat während des Sommers ein, nachdem Wilson von seiner Frau verlassen worden war. »Vor einem Jahr«, fährt der Courier-Herald fort, »gab es keine besseren Freunde als Wilson und Smith. Oft kamen sie zusammen in die Stadt. Wenn Smith eine Zigarre für sich kaufte, kaufte er auch eine für Wilson, der das genauso machte. Bei Streitigkeiten standen sie füreinander gegen Gott und die Welt ein, und die Leute sprachen oft davon, was sie doch für gute Freunde seien. Smith wird von den Leuten, die ihn kennen, als ruhiger, zurückhaltender Mensch beschrieben.«

Das einzige Foto, das ich je von ihm und Lloyd Wilson sah, war auf der Titelseite des Courier-Herald abgebildet. Da es sich um eine Fotokopie handelt, sind Schwarz und Weiß – oder vielmehr Braun und Weißvertauscht. Doch auch so sehen sie einander noch genügend ähnlich, um für Brüder gehalten zu werden. Kein Zweifel, Kain und Abel liebten sich auf ihre Weise ebenso oder mehr noch als David und Jonathan.

Es gibt viele Fragen, auf die ich durch die Lektüre der alten Zeitungen keine Antwort fand. Von wem zum Beispiel erfuhr Cletus' Mutter von dem Mord? Und wie schnell? Und was passierte dann - bekam sie vor ihren beiden Söhnen einen hysterischen Anfall? Und was war mit dem sechsjährigen Jungen, der zum Stall geschickt wurde, um nachzusehen, wo sein Vater so lange blieb? Spähten er und sein Bruder durch einen Spitzenvorhang hinaus, als die Spürhunde bellend über die Felder dem Mann nachjagten, der ihren Vater getötet hatte? Oder zog die Haushälterin sie vorn Fenster weg? Sie war eine Frau vorn Land, und so ein Schauspiel erlebte man nicht alle Tage. Höchstwahrscheinlich lugten alle drei zum Fenster hinaus, es sei denn, die Mutter der kleinen Jungen hatte sie schon abgeholt.

Ein paar Tage lang kamen immer wieder neue Einzelheiten ans Tageslicht: »Aus guter Quelle ist zu vernehmen, daß Wilson und Mrs. Smith seit der Scheidung der Smith im letzten Herbst und in der Zeit, in der Smith seiner ehemaligen Frau Unterhalt zahlte, häufig miteinander korrespondierten. Man nimmt an, daß Smith davon wußte und schwer daran trug. Mrs. Smith soll sich angeblich vor ihrem ehemaligen Mann gefürchtet und diese Angst Wilson mitgeteilt haben ... Sheriff Ahrens lud einen früheren Knecht von Smith vor, der im Prozeß für diesen ausgesagt hatte. Der Mann arbeitete in der Gegend von Coonsburg, war dort regelmäßig beschäftigt und hatte Smith seit Samstag abend vor einer Woche, als er beim Friseur in der Stadt von der Toilette kam und Smith auf eine Rasur warten sah, nicht mehr gesehen.« Und so weiter.




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[2]

Lloyd Wilson und Fern Smith (Clarence' Frau) haben ein Verhältnis miteinander, Wilsons Frau ahnt etwas. (S. 108 ff.)

Fred Wilson legte die Abendzeitung weg, nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. Die Familienähnlichkeit war einen Augenblick lang offensichtlich. »Na, morgen ist auch noch ein Tag«, sagte er und stand auf.

»Schlaf gut, Onkel Fred«, sagte Marie Wilson. »Wenn nicht, weiß ich auch nicht, wem ich die Schuld geben kann, außer mir selbst«, sagte er heiter und ging in sein Zimmer hinter der Küche. Die Kinder sagten ihrer Mutter gute Nacht, dann ihrem Vater und gingen nach oben ins Bett. Die Uhr tickte, manchmal laut. Ein Holzscheit fiel im Herd zusammen. Lloyd Wilson wurde gewahr, daß die Stille im Raum anders war als sonst, und wappnete sich innerlich. Seine Frau rollte den Socken, den sie gerade fertiggestopft hatte, zu einem Ball zusammen und sagte: »Ist zwischen dir und Clarence etwas vorgefallen?«

»Nein.«

»Ihr habt euch nicht gestritten?«

»Nein.«

»Also, was ist denn dann?« »Ich weiß es nicht.«

»Du meinst, du weißt nicht, Wie du es mir sagen sollst?«

Er wußte nicht, Wie er Sie belügen sollte. Andere Leute ja, aber nicht sie. Er sagte langsam: »Ich schätze, genau das meine ich.« Er sah, daß ihr Gesicht sich rötete und Tränen in ihren Augen glänzten. »Wir –«

»Wenn es das ist, was ich mir denke, will ich nichts davon hören.«

»Es ist nur, daß wir ... «

»Ich habe dir gesagt, ich will nichts davon hören.«

»– es nicht verhindern konnten.«

»Und das macht es euch beiden leichter, möchte ich annehmen. Aber verlange bloß nicht, daß ich's auch glaube. Von jetzt an gehst du deinen Weg, und ich gehe meinen.«

Was sie mit dieser Bemerkung meinte, wußte er nicht, und es schien auch nicht der geeignete Zeitpunkt, danach zu fragen. Ihre Augen trafen sich, und er hatte Mühe, ihrem Blick nicht auszuweichen. Ihr vorwurfsvoller Blick und der fehlende Schneidezahn waren Dinge, womit er nicht gerechnet hatte, als sie vor dem Priester standen. Und sie wohl auch nicht, dachte er traurig.

Tage vergingen, und er war schon fast überzeugt, daß ihre Bemerkung nichts bedeutet hatte und die Dinge wieder so waren wie vorher, als sie ihm mitteilte, sie nehme die Kinder und ziehe zu ihrer Schwester in die Stadt.

Er sagte das erstbeste, was ihm in den Sinn kam: »Aber du kommst doch nicht mit ihr aus.«

»Ich weiß. Aber sie sagt, sie nimmt uns auf. Blut ist dicker als Wasser.«

Er lehnte sich zurück und hörte zu, wie sie unter ihr gemeinsames Eheleben den Schlußstrich zog. Kein einziges Mal stritt er sich mit ihr oder leugnete auch nur eine ihrer Feststellungen. Als es schließlich nichts mehr zu sagen gab, nahm sie die Lampe und ging ins Nebenzimmer, und er folgte ihr, und sie zogen sich aus und gingen zu Bett, als wäre nichts geschehen. Nach einer Weile sagte er im Dunkeln: »Du kannst die Mädchen mitnehmen, aber nicht die Jungen.«

Es kam keine Antwort von der anderen Seite des Bettes.

Er wußte, daß er sie selbst jetzt noch dazu überreden konnte, ihre Meinung zu ändern, aber wenn er es täte –

»Nie zuvor in meinem Leben bin ich glücklich gewesen«, sagte er, »und ich will nicht darauf verzichten.«




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[3]

Der Erzähler, 50 Jahre später, in seiner Heimatstadt (S. 156 ff.)

Wenn ich nach Hause fahre, normalerweise wegen einer Beerdigung, läuft es stets darauf hinaus, daß ich die Neunte Straße entlangspaziere. Ich gebe mich dem hin wie einer sexuellen Verlockung. Das Haus, in dem wir gewohnt haben, hat mehrere Male den Besitzer gewechselt, und einer der letzten hat den ganzen hinteren Teil abreißen lassen – die Anrichte, die rückwärtige Treppe, die Küche, die Waschküche, wo der Herd stand, und das obere Schlafzimmer, wo das Halloweenfest stattfand. Warum? Um Öl zu sparen? Das Verandageländer und die Spaliere sind weg, ebenso der niedrige Eisenzaun, der den Vorgarten vom Bürgersteig trennte. Der hohe Randstein und die zwei Betonpfosten zum Anbinden der Pferde sind noch da, haben also ihren Zweck um etwa ein halbes Jahrhundert überdauert. Die UImenfäule tötete die bei den großen Bäume, unter denen ich spielte, und statt ihrer wachsen ein paar sturmzerzauste Ahornbäume an so merkwürdigen Stellen, daß die Vögel sie ausgesät haben müssen. Auf dem Grundstück hinter dem Haus, wo einmal der Blumengarten war, steht ein Bau etwa von der Größe und Form einer Garage, aber mit einem Panoramafenster, an dem Gardinen hängen. Jemand muß darin wohnen.

Das Haus daneben ging eines Nachts vor zehn oder fünfzehn Jahren in Rauch und Flammen auf – eine defekte Leitung –, und wo es einmal war, steht heute ein einstöckiges Apartmenthaus, das die Hälfte von unserem früheren Grundstück einnimmt. Hier und da fehlen überall in der Stadt alte Häuser, oder jemand hat zwischen zwei alte Häuser, die überdauert haben, ein neues Haus gebaut, das meine Erinnerung durcheinanderbringt. Wenn ich auf das neue Krankenhaus stoße, verliere ich völlig die Orientierung. Wo genau war der kleine Lebensmittelladen, zu dem mich meine Mutter immer schickte, wenn sie feststellte, daß ihr Reis oder Butter oder Backpulver fehlte? Und welcher Flügel des Krankenhauses hat das riesige Veilchenbeet unter sich begraben, das sich im Garten hinter dem Haus befand, in dem Mrs. Hart mit ihrem Sohn Dave wohnte, der nie geheiratet hat? Und war das Veilchenbeet so riesig, nur weil das Kind, das einmal im Jahr an die Hintertür klopfte und um Erlaubnis bat, Veilchen pflücken zu dürfen, so klein war?

Wenn ich von Lincoln träume, sieht es immer so aus, wie es in meiner Kindheit war. Oder vielmehr, ich träume, daß es so aussieht, denn an seinem Bild wurde herumgepfuscht, und es ist halb wirklich so und halb die Umgestaltung meiner schlummernden Sinne. Zum Beispiel das kleine rote Backsteinhaus, in dem Miss Lena Moose und Miss Lucy Sheffield wohnten. Es wurde wahrscheinlich während der Präsidentschaft von General Ulysses S. Grant erbaut, und im Inneren waren dunkle Balken und schwere Vorhänge, die das Licht aussperrten. Wenn ich von ihm träume, sind seine Proportionen so zufriedenstellend für das Auge und die Zimmer so hell, so bezaubernd und originell, daß ich das Gefühl habe, ich müsse auf irgendeine Weise mein gegenwärtiges Leben aufgeben und in dieses Haus ziehen: nichts anderes könne mich glücklich machen. Oder ich träume, ich stehe vor einem Haus in der Achten Straße – einem großen weißen Haus mit einem Erker an der Ecke und geschnitzten Giebeln und Seitenwandungen aus Schindeln. Ich bleibe auf dem Bürgersteig davor stehen, weil ich glaube, daß meine Mutter in dem Haus ist. Wenn ich an der Tür läute, wird sie kommen und mich einlassen. Oder jemand anders. Und ich werde durch das Haus gehen, bis ich sie find~. Aber was tut sie dort, wenn es doch nicht unser Haus ist? Es wurde in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gebaut, und unser Haus ist viel älter als dieses, und außerdem steht es in der Neunten Straße. Um dieses Rätsel zu lösen, lasse ich meine Erinnerung die Achte Straße entlangspazieren, beginnend an der Ecke, wo die Straßenbahnen abbiegen und ins Zentrum fahren, aber ehe ich zu dem Haus gelange, von dem ich eben träumte, bemerke ich, daß es nicht mehr da ist, und bin auf der Stelle wach.

Nach sechs Monaten auf der Couch eines Analytikers – auch das war vor langer Zeit – durchlebte ich noch einmal die abendlichen Rundgänge, bei denen ich meinen Arm um die Taille meines Vaters gelegt hatte. Vom Wohnzimmer in die Diele, dann zurück, an der Standuhr vorbei und in die Bibliothek und von der Bibliothek wieder ins Wohnzimmer. Von der Bibliothek ins Eßzimmer, wo meine Mutter in ihrem Sarg lag. Wir standen beide da und sahen zu ihr hinunter. Ich wollte zu dem väterlichen Mann, der nicht mein Vater war, dem ältlichen Herrn aus Wien, auch er im Exil, mit dicken Brillengläsern und deutschem Akzent, zu ihm wollte ich sagen: Ich konnte es nicht ertragen, aber aus meinem Munde kam: »Ich kann es nicht ertragen.« Auf diese Worte folgte eine Flut von Tränen, wie ich sie noch nie erlebt hatte, nicht einmal in meiner Kindheit. Ich stand von der Ledercouch auf und verließ (ich wußte irgendwie, mit seiner Zustimmung) seine Praxis und das Gebäude und ging die Sixth Avenue entlang zu meinem Büro. New York ist eine Stadt, in der man völlig ungestört auf der Straße weinen kann.

Andere Kinder hätten es ertragen, sie ertrugen es. Mein älterer Bruder ertrug es, irgendwie. Ich konnte es nicht.




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