Leseproben aus: Richard Powers, Der Klang der Zeit



S. 457 ff., 576 ff.



[1] Jonahs Stern geht am amerikanischen Konzerthimmel auf, die zweite Schallplattenaufnahme steht bevor; einmal kommt das Gespräch zwischen ihm und seinem Bruder auf den zwölf Jahre zurückliegenden Tod der Mutter, die bei einem Brand ums Leben kam. Ihre Schwester Ruth, inzwischen bei den Black Panthers und im Untergrund lebend, hatte Joseph auf die Idee gebracht, ihre Mutter wäre Opfer eines Anschlags geworden (S. 457 ff.)

[2] Delia muss sich wegen der Vorstellungen über die Erziehung der Kinder gegenüber ihrer Mutter, Nettie Ellen, rechtfertigen (S. 576 ff.)






[1]

Jonahs Stern geht am amerikanischen Konzerthimmel auf, die zweite Schallplattenaufnahme steht bevor; einmal kommt das Gespräch zwischen ihm und seinem Bruder auf den zwölf Jahre zurückliegenden Tod der Mutter, die bei einem Brand ums Leben kam. Ihre Schwester Ruth, inzwischen bei den Black Panthers und im Untergrund lebend, hatte Joseph auf die Idee gebracht, ihre Mutter wäre Opfer eines Anschlags geworden (S. 457 ff.)

Für seine zweite Platte hatte er sich eine Sammlung von englischen Liedern in den Kopf gesetzt – Elgar, Delius, Vaughan Williams, Stanford, Drake. Harmondial redete es ihm aus. Mit der Mischung aus Dekadenz und jungenhafter Unschuld, die seine Stimme nun ausstrahlte, hätte er geklungen wie ein Chorknabe, der jeden Schritt der Pubertät hinter sich hat außer dem einen, entscheidenden.

Die Firma wollte etwas Dunkleres, das zu dem neuen Bild des umstrittenen Sängers passte. Sie einigten sich auf Schuberts Winterreise. Eigentlich war das ein Zyklus für erwachsene Männer, für jemanden, der selbst weit genug gereist war, dass er alle Stationen dieser Reise kannte. Aber als der Vorschlag einmal auf dem Tisch lag, war Jonah nicht mehr davon abzubringen.

Diesmal fand die Aufnahme in New York statt. Jonah wollte einen klareren, direkteren Ton. Die meisten der Lieder hatte Jonah im Laufe der Zeit schon gesungen. Jetzt versammelte er sie zu einer Deutung, die mir auch heute noch den Atem stocken lässt. Statt dass er unschuldig zu seiner Reise aufbrach und in bitterer Leidenschaft endete, begann er übermütig, verschmitzt, und ging bis ganz ins andere Extrem, stand am Ende zu Tode erschöpft am Rand seines eigenen Grabes.

Auch heute noch bringe ich es nicht fertig, den ganzen Zyklus in einem Zug zu hören. In fünf Tagen am Ende seines sechsundzwanzigsten Jahres machte mein Bruder eine Reise in die eigene Zukunft. Er schickte die Botschaft des Jahres 1967 voraus in ein Jahr, in dem er sie selbst nicht mehr würde lesen können. Hellsichtig sang er von dem, was uns bevorstand, von Dingen, die er nicht wissen konnte, als er davon sang, Dinge, die ich heute noch nicht sehen würde, wenn nicht seine Zeichen auf mich warteten, telegrafische Mitteilungen aus einer unvollendeten Vergangenheit.

Zwischen der ersten und der neuen Aufnahme hatte Jonah zwei Jahre Erfahrung gewonnen. Er wusste genau, wozu jede einzelne Note in jeder Phrase da war. Er hatte jeden Ton des gesamten Zyklus im Kopf, jede Nuance. Er war ein unermüdlicher Architekt, baute Brücken für diese Winterreise des Lebens, zog Seile von Start zu Ziel mit ein paar wenigen kühnen Schwüngen, maß die ganze Spanne damit ab und gab ihr Zusammenhalt. Seine Stimme war sicherer, wendiger. Wir sangen in unserer Heimatstadt, gingen jeden Abend nach Hause in unser eigenes Bett, Zuflucht vor den Unwägbarkeiten der Arbeit des nächsten Tages. Er ging mit Begeisterung ins Studio, in den schalldichten Glaskubus, der ihn von allen Gefahren der Außenwelt abschirmte. Glücklich saß er im Kontrollraum, hörte seine Stimme aus den Monitorlautsprechern, lauschte dem heroischen Fremdling, der er noch Minuten zuvor gewesen war.

Einmal, in einer langen Pause, sprach er mit mir darüber. »Kannst du dich noch an das Sputnik-Signal erinnern, vor zehn Jahren? Wie wird das hier klingen, wenn ich längst tot bin?«

Die Wände jedes einzelnen Tages waren undurchdringlich. Die Botschaft aus der Zukunft würde uns nie erreichen. Aber er war in so mitteilsamer Stimmung, es schien mir der richtige Moment für meine Frage. »Hast du eigentlich jemals überlegt, ob damals bei diesem Feuer alles mit rechten Dingen zuging?« Ein Dutzend Jahre, und noch immer konnte ich es nicht beim Namen nennen.

Aber mehr Anstoß brauchte er nicht. »Du meinst, ob da etwas faul war?« Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Inzwischen trug er es lang genug dazu. »Es war von vorne bis hinten faul, Joey. Unfälle passieren nicht einfach so. Falls das deine Frage war.« Zwei Jahrzehnte lang hatte ich geglaubt, mir könne nichts geschehen, wenn ich mich nur mit Geschick und Disziplin an die Regeln hielt. Ich war der Letzte, der es begriff: Sicherheit gab es nur für die, die bestimmten, was Sicherheit war. Jonah saß da, nippte an Mineralwasser mit einem Spritzer Zitrone. Ich hatte mir heiße Tücher um die Hände gewickelt; sie sahen aus wie frisch verbunden. Ich beugte mich vor, suchte nach einem Blitzen in Jonahs Augen. Wir hatten uns zu weit voneinander entfernt, wir konnten uns auf die alte Telepathie unserer Kindertage nicht mehr verlassen. Auf der Bühne funktionierte es noch; aber noch ein Jahr oder zwei, und keiner würde mehr etwas am anderen verstehen außer der Musik. An diesem Nachmittag las er ein letztes Mal meine Gedanken, als wären es seine eigene.

»Früher habe ich jeden Abend daran gedacht. Ich wollte dich immer fragen, Joey.«

»Warum hast du es nicht getan?«

»Ich weiß nicht. Ich dachte, wenn ich dich frage, wird es wahr.« Er massierte sich den Hals, rieb die Stelle unter den Ohren, umfasste sein Kinn. Er pflegte das Instrument, von dem er lebte. Die Farbe seines Halses verriet nicht, woher er kam. Aus diesem Indiz hätte niemand geschlossen, was die Zeit ihm angetan hatte. »Spielt es denn eine Rolle, Joey? Ob es nun so war oder anders?«

Meine Hände zuckten, schüttelten ihre Bandagen ab. »Spielt es eine Rolle? Himmel. Natürlich.« Es war die wichtigste Frage von allen. Mord oder Unfall? Jedes Bild, das wir von uns hatten, jede Deutung meines eigenen Lebens hing von der Antwort auf diese Frage ab.

Mein Bruder steckte die Finger in das Zitronenwasser und fuhr sich damit über den Hals. »Gut. Dann will ich dir sagen, wie ich darüber denke. Das Ergebnis von zwölf Jahren Nachdenken.« Seine Stimme war tonlos, sie kam aus einem Bereich, der keinen Gesang kannte. »Du willst wissen, was geschehen ist. Du denkst, wenn du erst einmal weißt, was wirklich war, dann weißt du ... ja was? Was die Welt mit dir machen wird. Du denkst, wenn du nur wüsstest, ob sie deine Mutter umgebracht haben, wenn du nur wüsstest, ob deine Mutter bei einem echten Unfall umgekommen ist ... Stellen wir uns vor, es war nicht einfach nur der Heizkessel. Stellen wir uns vor, jemand hat nachgeholfen. Hast du dann deine Antwort? Dann hast du noch nicht einmal die Frage. Warum haben sie sie umgebracht? Weil sie schwarz war? Weil sie zu frech geworden war, die falschen Lieder sang? Weil sie die Grenze überschritten hatte, als sie deinen Vater heiratete? Weil sie sich nicht unterkriegen ließ? Weil sie ihre Mutantensöhne auf eine Privatschule schickte? War es nur eine Abschreckungsmaßnahme, die über das Ziel hinausschoss? Wussten sie überhaupt, dass sie im Haus war? Vielleicht hatten sie es auf Pa abgesehen. Vielleicht galt es uns Kindern. Jemand, der die Rassen unseres Landes rein halten wollte. Du müsstest wissen, ob es ein einzelner Irrsinniger war, ob es die Nachbarn waren, ob es eine Bande von anderswo war, zwanzig Häuserblocks weiter im Norden oder Süden. Als Nächstes müsstest du überlegen, warum dein Vater nie versucht hat ... «

Er hielt inne, um Atem zu schöpfen, aber nicht weil ihm die Puste ausging. Er hätte noch ewig weitersegeln können auf seinem Luftstrom.

»Oder stellen wir uns vor, es war der Heizkessel. Keiner half nach, keiner fühlte sich berufen Schicksal zu spielen. Warum ausgerechnet dieser Heizkessel ? Warum wohnten wir in einem Haus mit so einem Kessel? Wird die Sicherheit von Heizkesseln nicht überprüft, in den besseren Vierteln? Wie wäre sie gestorben, wenn sie in den ausgebrannten Straßen irgendwo zwischen Seventh und Lenox Avenue gewohnt hätte? Die Leute da sterben an Tetanus. An Grippe. Sie sterben, weil sie nicht lesen und schreiben können. Verbluten auf dem Rücksitz eines Autos, weil das Krankenhaus sie nicht aufnimmt. Wenn eine Frau wie Mama stirbt, in diesem Land, in ihrem Alter, dann ist daran jemand schuld. Was musst du da noch wissen? Also, Joey, Hätte es einen Einfluss auf dein Leben, wenn du die Antworten wüsstest, wenn auch die letzten Zweifel ausgeräumt wären?«

Ich musste an Ruth denken. Ich wusste nicht, was ich Jonah antworten sollte. Aber er hatte eine Antwort für mich.

»Du brauchst nicht zu wissen, ob jemand sie bei lebendigem Leibe angesteckt hat. Es reicht, wenn du weißt, ob jemand es tun wollte. Und auf die Frage kennst du die Antwort. Du kennst die Antwort, seit du – was weiß ich - sechs warst? Vielleicht hat einer getan, was alle gern tun wollten. Vielleicht auch nicht. Vielleicht ist sie einen Tod gestorben, der nichts mit ihrer Hautfarbe zu tun hatte. Vielleicht kommt es wirklich vor, dass Heizkessel explodieren. Du weißt es nicht, du kannst es nicht wissen, du wirst es nie wissen. Genau das bedeutet Schwarzsein in diesem Land. Dass man niemals Gewissheit hat. Weißt du, was es bedeutet, wenn sie dir das Wechselgeld auf den Tisch legen und nicht in die Hand? Wenn sie schon eine Querstraße bevor sie dir begegnen die Straßenseite wechseln? Vielleicht wollten sie ja auf die andere Seite. Das Einzige, was du mit Sicherheit weißt, das ist, dass jeder von ihnen dich hasst. Sie hassen dich dafür, dass du sie dabei erwischst, wie sie sich selbst belügen.«

Er rollte mit der Schulter, eine Lockerungsübung für Sänger. Bereit zur Rückkehr ins Studio, bereit mit seinem Leben weiterzukommen. »Einmal habe ich Pa zum Reden gebracht. Weiß der Geier, wo du da warst, Joey. Kann ja nicht immer auf dich aufpassen. Offenbar hat er ihr vor der Hochzeit erklärt, dass es, logisch gesprochen, vier Möglichkeiten für uns gibt: A, B, A und B, weder A noch B. Die starren Kategorien gefielen ihm nicht. In der Zeit gab es so etwas nicht. Was wusste er über uns? Genauso wenig wie wir über ihn wissen. Sie wollten beide nicht wahrhaben, dass Rasse mächtiger ist als alles andere. War das denn nicht der Trick, mit dem die Geschichte uns hereingelegt hatte? Beide waren sie überzeugt, dass Familie eine stärkere Kraft sein konnte als Hautfarbe. Das war der Grundgedanke. Deswegen haben sie uns so aufgezogen. Ein nobles Experiment. Vier Wahlmöglichkeiten, jede davon klar umrissen. Aber selbst das Klarste ist nicht unveränderlich.«
Er richtete sich auf und hob die Arme über den Kopf, fasste nach hinten und berührte die Schulterblätter, die Stummel seiner gestutzten Flügel. So sehe ich ihn vor mir, wenn ich heute diese zweite Schallplatte anhöre. Ein Leuchten in den Augen, im Begriff ein Lied anzustimmen, in dem er sich verlieren kann.

»Aber weißt du was, Muli? Es verändert sich nichts. Die Weißen wollen sich nicht verändern, die Schwarzen können es nicht. Sicher, die Weißen ziehen weg, wenn ein Schwarzer das Nachbarhaus kauft. Aber das ist auch schon alles. Ansonsten stehen die Rassen so fest wie die Pyramiden. Älter als alle Geschichte, für die Ewigkeit gebaut. Glaub mir, selbst die vier Möglichkeiten sind schon ein Witz. In diesem Land gibt es keine Wahl.«

»Ruth hat einen Black Panther geheiratet.« Aber auch das hatte er irgendwie schon erfahren. Vielleicht hatte sie es ihm bei ihrem Treffen gesagt. Er nickte nur. Ich machte weiter, gekränkt. »Robert Rider. Sie ist jetzt auch dabei.«

»Gut für sie. Jeder braucht sein Metier,«

Ich zuckte zusammen bei dem Wort. »Sie hat den Polizeibericht. Über das Feuer, meine ich. Sie und ihr Mann ... Sie sind sich sicher. Sie sagen, wenn der - wenn Mama eine Weiße gewesen wäre ... «

»Sie sind sich sicher? Gewissheit über alles, was wir längst wussten. Aber Gewissheit darüber, was sie umgebracht hat? Die werden wir nie bekommen. Das bedeutet Schwarzsein, Muli. Dass man niemals Gewissheit hat. Daran spürst du, wer du wirklich bist.« Er legte einen grässlichen kleinen Shuffle aufs Parkett, wie aus einer Minstrelshow. Früher hätte ich vielleicht versucht, es ihm auszureden. Ihn von sich selbst zu befreien. Jetzt wandte ich einfach nur den Blick ab.

»Wenn für Pa und Mama die Familie wichtiger war als ... « Ich schmeckte die Galle in meinem Mund. »Warum zum Teufel haben wir dann nicht mal eine Familie?«

»Von Mamas Seite, meinst du?« Er blieb stehen, ließ den Blick zurückwandern. Er als Einziger war alt genug, dass er sich an unsere Großeltern erinnerte. »Aus dem gleichen Grunde, aus dem Ruth sich abgesetzt hat, nehme ich an.«

»Nein, Das ist nicht der Grund.« Jonah lächelte über diesen offenen Widerspruch. Er hielt die Hände aneinander, wie eine Kirchturmspitze, und legte sie an die Lippen. »Sie haben sich zerstritten. Das weißt du doch. Es gibt keine Gewissheit, Muli. Habe ich dir das nicht gesagt? Rasse ist stärker als Familie. Sie ist stärker als alles. Stärker als Mann und Frau. Stärker als Bruder und Schwester ... « Stärker als Zeichen am Himmel. Stärker als alles was wir wissen können. Und doch gab es etwas, das war so klein, dass es sich unbemerkt an der Rasse vorbeimogeln konnte. Jonah legte mir den Arm um die Schulter. »Komm, Bruder. Wir haben zu tun.«

Wir kehrten ins Studio zurück und nahmen »Die Krähe« in einem einzigen Durchgang auf - das eine Lied in der ganzen Aufnahme, das schon beim ersten Anlauf perfekt war. Immer wieder hörte Jonah sich das Band an, suchte nach der kleinsten Schwäche. Aber er fand keine.

Eine Krähe war mit mir
Aus der Stadt gezogen,
Ist bis heute für und für
Um mein Haupt geflogen.

Krähe, wunderliches Tier,
Willst mich nicht verlassen?
Meinst wohl bald als Beute hier
Meinen Leib zu fassen?

Nun, es wird nicht weit mehr gehn
An dem Wanderstabe.
Krähe, lass mich endlich sehn
Treue bis zum Grabe!

Er sang mit der Präzision eines Laserstrahls, doch zugleich löste seine Stimme jede einzelne Note auf, gab jeder einen Hauch Billie Holiday, wie sie über das Schlachtfeld eines Lynchmords ging. Mit seinem Gesang entlockte er diesen Worten ihr tiefstes Geheimnis.

Am Abend des letzten Aufnahmetages verabschiedeten wir uns von den Technikern und traten hinaus in die Fremde unserer Heimatstadt. Midtown war ein Lichtermeer, gespeist von urzeitlichen Energien. Wir gingen die Sixth Avenue hinunter, in der Gegend der 30. Straße, tauchten ein in den geschäftigen Feierabendverkehr. Der Klang einer Sirene drang aus zehn Häuserblocks Entfernung herüber. Ich packte Jonah. Ich warf mich beinahe auf ihn. »Nur ein Streifenwagen, Joey, Hinter einem Einbrecher auf Spätschicht her,« In meiner Brust drehte es sich wilder als bei Schuberts Leiermann. Ich wusste, was kommen musste. Ich wartete nur, dass die Geschichte sich wiederholte, dass die nächste Runde begann, dass irgendwo in der Stadt der Aufstand losbrach. Ich wusste, was geschah, wenn wir seine Stimme für die Ewigkeit festhalten wollten. Wir gingen den ganzen Weg zu Fuß, vom Tonstudio bis zum Village. An diesem Abend heulten in New York nicht mehr Sirenen als an jedem anderen. Aber ich zuckte bei jeder zusammen, bis aus dem Amüsement meines Bruders Verachtung wurde. Als wir in Chelsea anlangten, stritten wir uns schon.

»Watts war also meine Schuld? Das denkst du allen Ernstes?« »Das habe ich nicht gesagt. Das denke ich nicht.«

An der 4. Straße ließ er mich stehen und machte sich allein davon. Ich ging zur Wohnung, blieb die ganze Nacht auf und wartete auf ihn. Er kam erst am nächsten Tag zurück. Und da war das Thema tabu. Nie wieder würde ich diese Art von Gespräch mit ihm führen. Nie fragte er, woher ich von Ruth gewusst hatte. Auch sie war jetzt tabu. Jetzt, wo wir über so vieles nicht mehr redeten, blieb mir endlos viel Zeit, über das nachzudenken, was ich ihm anvertraut hatte. Ich überzeugte mich davon, dass es kein Verrat an Ruth gewesen war. Sie hatte gewollt, dass ich es ihm sage. Sie hatte mich zu Stillschweigen verpflichtet, wie Jesus seinen Jüngern verboten hatte, von den Wundern zu erzählen, die er wirkte. Jedes Mal, wenn die Black Panthers Schlagzeilen machten, wurde mir flau im Magen; jedes Mal rechnete ich damit, dass Ruths oder Roberts Name unter den Opfern auftauchen würde. Huey Newton, der Parteigründer, wurde verhaftet und des Mordes an einem Polizeibeamten in Oakland bezichtigt. Ruth hatte mit dem Mann ungefähr so viel zu tun wie ich mit Präsident Johnson. Aber zwei Wochen lang quälte es mich, so als hätte sie irgendwie mitgeholfen, den Abzug zu drücken. Ein Mensch muss das Recht haben, sich zu verteidigen. Solange die Polizei uns nach Belieben abschießen kann.

In Albany stürzte ein billig gebautes Regierungsgebäude ein. Niemand wurde verletzt, es gab keinerlei Hinweise auf einen Anschlag. Aber nervöse Politiker versuchten, den Einsturz mit den New Yorker Panthers in Verbindung zu bringen, die lautstark für ihre Rechte eintraten - der Sektion, die Ruth und Robert Rider aufbauen halfen.

Ich hatte die Welt nie so recht verstanden, und mein eigenes Leben noch weniger. Aber jetzt war es Meyerbeer ohne Untertitel. Meine Schwester würde mir schreiben. Sie und ihr Mann würden nach einer Zeit des Straßenkampfs zur Besinnung kommen. Sie würden für Dr. King arbeiten. Solche Phantasien gingen mir Tag für Tag durch den Kopf, obwohl ich nie daran glaubte. Aber dann gab es auch die Tage, an denen ich unsere zarten hundertjährigen Lieder vor gut betuchtem Publikum spielte, Leuten, die sich freuten, dass wenigstens diese zwei Neger noch brav geblieben waren; an solchen Tagen kam es mir vor, als warte Ruth auf einen Brief von mir.

Vier Wochen nach Abschluss der Plattenaufnahmen rief Mr. Weisman an. Er hatte ein Angebot von der Met. Jonah ließ sich in aller Ruhe die Einzelheiten durchgeben, als hätte er nie gezweifelt, dass dieser Anruf kommen würde. »Toll.« Es hätte nicht anders geklungen, wenn ihm gerade jemand fünfzig Prozent Rabatt auf seine nächste Wäschereirechnung geboten hätte. »An was denken sie?«

Weisman sagte es ihm. Er wiederholte die Antwort laut für mich. »Poisson in Adriana Lecouvreur?« Ich zuckte mit den Schultern, hatte keine Ahnung. Die Oper war ein Vorzeigestück für Sopranistinnen. Kanarifutter nannten wir solche Sachen immer. Keiner von uns hatte sie sich je angehört. »Was ist das für eine Rolle?«, rief Jonah in den Telefonhörer, nun schon deutlich lauter.


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[2]

Delia muss sich wegen der Vorstellungen über die Erziehung der Kinder gegenüber ihrer Mutter, Nettie Ellen, rechtfertigen (S. 576 ff.)

»Ich bin so müde, Mama.«

»Du? Von was willst du denn müde sein?« Der Tadel nicht zu überhören: Ich war schon müde, bevor du überhaupt auf der Welt warst. Ich habe dich nicht großgezogen, damit du klein beigibst.

»Ich halte es einfach nicht mehr aus, dass sich immer alles nur um die Rasse dreht, Mama.« Der Fisch und der Vogel können sich verlieben. Aber das einzige Nest, das diese Welt ihnen zugesteht, ist kein Nest.

Eine goldbraune Kellnerin kommt und nimmt ihre Bestellung auf.

Nettie Ellen bestellt, was sie immer bei Haggern′s bestellt, schon seit ewigen Zeiten. Einen schwarzen Kaffee und ein Stück Blaubeerkuchen. Delia nimmt ein Schokoladen-Doughnut und ein kleines Glas Milch. Ihr ist nicht nach essen zumute, und sie wird es nicht herunterbringen. Aber sie muss es bestellen. Sie hat es jedes Mal bestellt, wenn sie hier war. Die Kellnerin geht mit beschwingten Schritten, und Nettie Ellen sieht ihr nach. »Du hältst es nicht aus, dass du farbig bist. Das ist es.«

Delia betrachtet die Anschuldigung, probiert sie an wie ein Kleid.

Eine Gefängniskluft. Etwas Gestreiftes. »Ich halte es nicht mehr aus, dass jeder glaubt, er weiß, was farbig ist.«

Ihre Mutter sieht sich in dem Lokal um. Ein Junge, noch keine zwanzig, in weißer Hose, weißem Hemd und mit einer kleinen Papiermütze auf dem Kopf, steht am Grill. Zwei alte Kellnerinnen auf stämmigen Beinen tragen Teller vom Tresen zu den Holztischen. Ein junges Paar am Tisch gegenüber steckt die Köpfe zusammen, trinkt mit zwei Strohhalmen aus einem gemeinsamen Glas Limonade. »Wer sagt das? Hier sagt dir bestimmt keiner, was farbig ist. Nur die Weißen tun das. O-fay

Ihre Mutter spricht das Hasswort, für das sie Delia einmal, mit zwölf, den Mund mit Seife ausgewaschen hat. Etwas hat sich verändert. Entweder die Regeln oder ihre Mutter. »Meine Jungen sind ... anders.«

»Sieh dich doch um, Kind. Jeder hier ist anders. Kein Mensch ist wie der andere.«

»Ich muss ihnen die Freiheit geben, dass sie -«

Ihre Mutter sieht sie grimmig an. »Komm mir ja nicht mit Freiheit. Dein Bruder ist im Krieg geblieben - für das Wort. Ein Schwarzer, der für die Freiheit von fremden Menschen in fremden Ländern gekämpft hat, und hier zu Hause hätte er die Freiheit nie bekommen, auch wenn er noch am Leben wäre.«

»Eine Menge Leute sind im Krieg umgekommen, Mama. Weiße Leute. Schwarze Leute. Gelbe Leute.« Die anderen Großeltern ihrer Jungen.

»Dein Mann nicht. Der hat -« Aber sie behält es für sich, was sie dem Vater ihrer Enkelkinder vorwerfen möchte.

»Mama, es ist anders, als du denkst.« Sie blickt sie forschend an. »Aber ja. Wann ist schon mal etwas so, wie ich denke?«

»Es ist kein Entweder-oder. Wir wollen ihnen nichts vorenthalten. Wir wollen ihnen nicht weniger geben, sondern mehr. Wir geben ihnen Raum, die Möglichkeit zu wählen, das Recht, sich ihr Leben zu suchen, wo immer sie -«

»Deshalb hast du einen Weißen geheiratet? Damit deine Kinder so hell sind, dass sie Sachen machen können, die du nicht tun durftest?«

Delia weiß, warum sie einen Weißen geheiratet hat. Sie könnte exakt den Augenblick nennen, in dem die Entscheidung fiel. Aber selbst wenn sie eine Million Jahre dafür hätte, könnte sie ihrer Mutter nicht begreiflich machen, was damals auf der Mall geschehen ist, an dem Tag, an dem sie in ihre Zukunft schaute.

Die Mutter blickt zum Fenster von Haggern′s hinaus und betrachtet die Passanten. »Du hättest bei uns bleiben können. Du hättest jede Woche in der Kirche singen können, für die Menschen, die Seine Botschaft brauchen. Was willst du denn in einem vornehmen Konzertsaal, wo man sich nicht mal rühren darf, geschweige denn mitsingen? Es hätte so viele Orte gegeben, an denen du mit uns hättest singen können, die hätten dir für dein ganzes Leben gereicht. Mehr Ecken, an denen du hier unten singen kannst, als oben im Himmel.«

Mein Lobpreis Gottes ... die Art Musik, die ich studiert habe ... Jede Antwort, die Delia hätte, fällt sofort in sich zusammen. Die Kellnerin kommt mit dem Kuchen und rettet sie. Eine Dampfwolke steigt von Nettie Ellens Blaubeerkuchen auf. Die Kellnerin setzt ihn vor ihr ab. »Ist das nicht ein Prachtstück? Frisch aus dem Ofen. Hatte sich ganz nach hinten verzogen und dachte, er ist zu fein zum Essen.«

»Haben Sie ihn schon probiert?«, fragt Nettie Ellen.

»Ha! Sieht der Laden hier vielleicht aus, als ob die uns ein Stück abgeben?«

»Dann nehmen Sie sich eins und schreiben Sie′s auf meine Rechnung. Na los, machen Sie schon!«

»Tausend Dank, Ma′am, aber ich muss auf meine Figur achten. Mein Liebster will mich schlank und rank. ′Dünn wie ein Stück Seife am Ende der großen Wäsche′.«

»Mein Mann sagt immer, ich müsste mehr essen.« »Da können wir gerne tauschen. Hat er einen Sohn?«

»Einen.« Früher waren es zwei. »Aber wenn Sie von dem Kuchen naschen wollen, müssen Sie noch ein Jährchen oder zwei warten.«

»Sagen Sie mir Bescheid.« Die Kellnerin winkt ihnen zum Abschied und wischt zugleich alle eitlen Sorgen dieser Welt beiseite. »Ich bin hier.«

Delia wird als Verbannte sterben. Einst lebte auch sie in dieser Welt. Ihre Jungen werden sie nie kennen lernen. Niemals die respektlose Schlagfertigkeit eines Volkes, das jede Verstellung sofort durchschaut. Die Welt, in der es mehr Ecken zum Singen gibt als im Himmel. »Die Farbigen müssen stärker werden, Mama.« Ein Satz, den sie ihr Leben lang von ihrem Daddy gehört hat.

»Die Farbigen? Stärker? Dafür ist auf der Welt kein Platz. Sie haben die Farbigen in so viele kleine Stücke geschlagen, es gibt keine größere Nichtigkeit auf der Welt. Die Weißen müssen stärker werden. Die Weißen haben doch nie Platz für jemand anderen gehabt, immer nur für sich selbst.«

Schweigend stochern sie in ihrem Kuchen. Wenn doch nur die Kinder zurückkämen. Wenn sie zurückkämen und ihnen beiden bewiesen, dass sich nichts geändert hat. Immer noch deine Jungen. Immer noch deine Enkelkinder.

»Weiß ist nur eine einzige Farbe. Alles andere ist schwarz. Und du willst sie aufziehen, sodass sie eine Wahl haben? Du hast aber keine Wahl. Und sie auch nicht. Die Wahl treffen die anderen für sie!« Nettie Ellen legt ihre Gabel ab. Sie blickt ihrer Tochter ins Gesicht. »Meine eigene Mutter. Meine eigene Mutter. Hatte einen Vater, der war weiß.«

Die Worte treffen Delia wie ein Hieb. Nicht die Tatsache; die hatte sie sich schon lange aus dem, was geflüstert wurde, zusammengereimt. Aber dass ihre Mutter es hier so sagt. Laut und in der Öffentlichkeit. Sie schließt die Augen. Mit diesem Schmerz könnte sie überall sein. »Was ... war er für ein Mann, Mama?«

»Woher soll ich das wissen? Ich habe ihn nie gesehen. Kein einziges Mal hat er sich bei uns blicken lassen. Keinen Cent hat er uns je gegeben, damit aus den Kindern mal was wird. Könnte jeder gewesen sein. Könnte der Großvater von deinem eigenen Mann gewesen sein.«

Delia lacht, aber es kommt ein grässlicher Laut heraus, ein tiefes Gurgeln. »Nein, Mama. Davids Großvater ... war nie in seinem Leben in Carolina.«

»Willst du mir auch noch Widerworte geben?«

»Nein, Mama.«

»Aber das ist was, was ich nie verstanden habe. Wenn Weiß so allmächtig ist, wieso wiegt dann ein Dutzend von ihren Urgroßvätern nicht einen einzigen von unseren auf?«

Nun muss Delia doch lächeln. »Das ist doch genau, was ich sage, Mama. Jonah und Joey, die Hälfte von dem, was sie ... kommen sie denn nicht genauso -«

»Habt ihr irgendwas von seinen Eltern gehört ?«

David hat hundert Briefe geschrieben, in Dutzenden von Archiven nachforschen lassen: Rotterdam, Westerbork, Essen, Köln, Sofia - all der Untergang, mit deutscher Gründlichkeit in Akten festgehalten. »Bisher nicht, Mama. Aber wir geben nicht auf.«

Beide Frauen lassen die Köpfe hängen. »Weiße haben ihre Großeltern umgebracht. Das kannst du nicht vor ihnen verheimlichen. Du kannst sie nicht belügen. Sie müssen auf die Welt vorbereitet sein. Mehr will dein Vater doch gar nicht sagen, Kind.«

»Es bleibt nicht immer so. Die Dinge ändern sich, selbst jetzt, in dieser Minute. Wir müssen dafür sorgen, dass die Zukunft kommt. Sie kommt nicht von selbst.«

»Zukunft! Das Hier und Jetzt, um das müssen wir uns kümmern! Bisher haben wir ja nicht mal das!«

Delia sieht sich um, ein ganzes Lokal voller Leute ohne Gegenwart. Sie weiß nicht wie, aber wenn sie ihre Söhne singen hört, wenn sie auf ihre kleinen Entdeckungsreisen ins Reich von Kanon und Imitation gehen, dann findet sie ihr Hier und Jetzt, und es ist groß genug, um darin zu leben.

Und mit dem verblüffenden Gespür, das Delia so oft das Leben schwer gemacht hat, als sie noch jung war, liest ihre Mutter ihre Gedanken. »Ich habe mich nie darum gekümmert, welche Musik du singst. Ich habe es nie verstanden. Aber alles, was du gesungen hast, war gut, solange es von Herzen kam. Und solange du dich nicht deswegen für etwas hieltest, was du nicht warst. Für was sollen die Jungen sich halten?«

»Darum geht es doch, Mama. Wir wollen es ihnen nicht vorschreiben. Dann müssen sie niemals von einem anderen -«

»Weiß? Du erziehst sie als Weiße?«

»Unsinn. Wir wollen sie ... für eine Welt erziehen, in der die Farbe nicht mehr zählt.« Die einzige stabile Welt, die einzige, in der sie überleben können.

»Das heißt weiß. Nur Weiße können glauben, dass so etwas nicht mehr zählt.«

»Nein, Mama. Wir erziehen sie ... « Sie sucht nach dem richtigen Wort, aber das Einzige, was sie findet, ist nichts. »Sie sollen das werden können, was in ihnen steckt. Sie selbst. Das kommt an erster Stelle.«

»Kein Mensch ist so wichtig, dass er sich selbst an erste Stelle setzen sollte.«

»Mama, das meine ich doch nicht.«

»Kein Mensch soll sich das einbilden.« Vier lange Takte Schweigen. Dann: »Was bekommen sie von dir, für all das, was du ihnen wegnimmst?«

War es wirklich Diebstahl? Mord? Die Kinder kommen zurück und retten Delia vor der Antwort. Sie kommen hereingetobt, alle vier in bester Laune. Die Mädels tun, als seien sie riesige mechanische Krallen, die quietschenden Neffen die wehrlosen Kaugummikugeln. Mit nichts als einer gehobenen Augenbraue bringt Nettie Ellen sie zur Ordnung.

»Omama«, sagt Jonah, »die Tanten sind verrückt!«

Sie legt den Arm um den Jungen, streichelt sein fremdartiges Haar. »Wieso sind sie verrückt, Kind?«

»Sie sagen, eine Eidechse ist nur eine Schlange mit Beinen. Und sie sagen, singen ist genau wie sprechen, nur schneller.«

Ihre Kellnerin kommt und fragt, ob die Kinder etwas wollen. Sie ist verblüfft, als sie die Jungen anschaut. Delia sieht, wie sie sie mustert, die Hautfarbe taxiert, sich gottweißwas für eine Geschichte als Erklärung zurechtlegt. Die Kellnerin zeigt auf Jonah, »Das ist aber nicht der, auf den ich warten soll, oder?«

Nettie schüttelte den Kopf, Delia senkt den Blick, Tränen in den Augen.

Die Kinder bekommen Kuchen. Eine Viertelstunde lang sind Delia, ihre Mutter, ihre Schwestern und ihre Kinder glücklich vereint, reden, essen, brauchen für nichts außer füreinander einen Namen. Sie und ihre Mutter wollen beide die Rechnung zahlen. Sie überlässt sie ihrer Mutter. Dann stehen sie draußen, auf dem Bürgersteig vor Haggern′s. Delia schmiegt sich an ihre Schwestern, wartet auf die Einladung - Natürlich, Kind! -, mit in das große Haus zu kommen, nur ein paar Straßen entfernt. Ihr Zuhause. Sie wartet eine entsetzliche Ewigkeit lang auf dem schwankenden Asphalt.

»Mama«, hebt Delia an, die Stimme so angespannt wie am Tag ihrer ersten Gesangstunde. »Mama, Ich brauche deine Hilfe. Bring mich wieder mit Vater zusammen.«

Nettie Ellen packt sie energisch an den Ellbogen, heftig von der Erregung. »Das ist nicht schwer. Ihr habt euch doch gar nicht zerstritten. Nur eine Meinungsverschiedenheit. Wie es im Buche steht: ′Auch das geht vorbei.′ Du rufst ihn einfach an und sagst ihm, dass es dir Leid tut. Dass du im Unrecht warst.«

Delia spannt sich. Das ist die Bedingung, wenn sie dazugehören will: Sie und ihr Mann, das, worüber sie nachgedacht und was sie entschieden haben, müssen als falsch hingestellt werden. Vielleicht war es ja falsch, was sie entschieden hat, vielleicht war jede ihrer Entscheidungen falsch, aber richtig ist auf jeden Fall, dass sie auf ihrem Recht besteht, diese Entscheidungen zu fällen. In der einen Welt, die es wert ist, dafür zu kämpfen, gehört jedem jedes Lied. Das hat ihr Vater ihr vor langen Jahren klargemacht, und jetzt sorgt er dafür, dass sie sich auch daran hält.

Sie gehen ihrer Wege, in verschiedene Richtungen - Nettie und die Zwillinge zum Haus des Doktors, Delia und die Jungen zum Zug nach New York. Zum Abschied umarmt Delia noch einmal ihre Schwestern. »Tut mir den Gefallen und wachst nicht so schnell. Schließlich will ich euch ja noch wiedererkennen, wenn ich euch das nächste Mal sehe.«

Sie versucht es - versucht ihren Vater anzurufen. Sie wartet noch eine Woche, hofft, dass in den sieben Tagen die Messer stumpfer werden. Aber schon die ersten Worte des Telefonats sind eine Katastrophe, und von da an wird es nur noch schlimmer. Am Ende sagt auch sie entsetzliche Dinge, Dinge, die zu sagen sie gar nicht imstande ist, Dinge die nur dazu da sind, dass sie sie für alle Zeiten bereut.

Die Zeit der Niederkunft kommt. Am liebsten würde sie sich in Stein verwandeln. Sie möchte sich ins Bett legen und nie wieder aufstehen. Nur die Jungen halten sie aufrecht. Nur die Vorfreude darauf, dass sie Gesellschaft bekommen. Sie schreibt Nettie Ellen einen weiteren Brief, ganz Tochter ihrer Mutter.

Mama,
das Baby kommt. Diese Woche oder nächste ist es soweit. Länger kann ich es nicht mehr halten. Ein starkes Kind. Wahrscheinlich kommt es auf seinen Großvater und will unbedingt raus in die Welt. Es wäre so schön, wenn du wieder helfen könntest, wie bei Jonah und Joey, Es wäre eine große Hilfe, wenn eine Frau da wäre, die sich um die Jungen kümmern kann. Du weißt ja, wie hilflos Männer sind, wenn es hart auf hart kommt. David wäre auch froh. Sag mir, was wir tun können, damit es möglich ist. Es wäre doch nicht richtig, wenn wir dein neues Enkelkind bekämen und du wärest nicht dabei! Deine Delia.

Jede Manipulation ist erlaubt. Sie ist zu allem bereit, was Versöhnung verspricht. Und nicht im Mindesten auf die Zeilen vorbereitet, die sie als Antwort bekommt.

Kind,
es war nicht einfach für mich, deinen Vater zu heiraten und seine Kinder auszutragen. Vielleicht hast du dir das nie vor Augen geführt. Er und ich kamen aus verschiedenen Welten. Aber ich liebte den Mann und gab ihm das Versprechen, wie es geschrieben steht: »Rede mir nicht ein, dass ich dich verlassen und von dir umkehren sollte. Wo du hingehst, da will auch ich hingehen, wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben werden.« Es gibt nichts was ich über das stelle. Erwarte nichts anderes von mir. Ich weiß, das gleiche Versprechen musst du deinem Mann und dir selbst geben. Ich verstoße dich nicht, und du weißt, dass wir allzeit warten, dich wieder bei uns aufzunehmen, wann immer du willst und wann immer du es brauchst.

Unterschrieben ist es mit »Mrs. William Daley«. Als sie die letzten Worte liest, windet Delias ganzer Leib sich schon in den Wehen. Als ihr Mann sie findet, ist die Fruchtblase bereits geplatzt. Er muss einen Krankenwagen rufen, der Mutter und Tochter mit Blaulicht ins Hospital bringt. Als sie hört, dass sie ein Mädchen zur Welt gebracht hat, sagt sie: »Ich weiß.« Und als ihr Mann fragt: »Wie nennen wir sie?«, antwortet sie: »Sie heißt Ruth.«


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