Aus der Schreibwerkstatt (Februar 2023)

Vorwort zur Biografie des amerikanischen Dichters Robert Frost (1874-1963)









(Stand: 5.2.23)



"Das ultimative Problem eines Frost-Biografen besteht in der Aufgabe, genug Psychologe zu sein, um weit genug in Robert Frosts prägende Jahre zurückzugehen. Nur so kann er versuchen zu verstehen und zu erklären, welche Kräfte damals wirksam waren, die die eigenartigen Formen von Neurosen erzeugt haben, mit denen Robert Frost fast sein ganzes Leben lang zu kämpfen hatte. Natürlich ist ein solches Vorgehen seitens des Biografen gefährlich – sehr gefährlich."

Diese seltsam anmutende Warnung stammt von dem Literaturwissenschaftler Lawrance Thompson (1906 – 1973), der die bis heute umfangreichste Biografie von Robert Frost verfasst hat. Wir kommen darauf zurück.

Robert Frost ist einer der bekanntesten Dichter der Vereinigten Staaten von Amerika, wenn nicht gar der bekannteste. Der am meisten gefeierte und geehrte ist er auf jeden Fall. Frost lebte von 1874 bis 1963, und in den USA kennt jedes Schulkind Gedichte von ihm. Er ist der einzige, dem viermal die höchste literarische Auszeichnung seines Landes, der Pulitzerpreis, in der Sparte Dichtung zuerkannt wurde, er wurde 31-mal für den Literaturnobelpreis nominiert (auch wenn er ihn nie erhalten hat), er erhielt sieben Ehrendoktorwürden, darunter die sehr seltene doppelte Auszeichnung der englischen Universitäten Oxford und Cambridge, und viele weitere akademische Ehrentitel. Man könnte lange fortfahren mit der Aufzählung der Ehrungen und Anerkennungen, die dieser Mann in seinem Leben erfahren hat: poet laureate von Vermont, Goldmedaille des US-Kongresses, zahlreiche Ehrenmitgliedschaften in philosophischen und literarischen Gesellschaften und so fort. Fragt man in den Staaten oder auch anderen englischsprachigen Ländern jemanden, wer Robert Frost war, wird man mit hoher Wahrscheinlichkeit spontan eine kundige Antwort erhalten. Robert Frost gehört zum kulturellen Erbe Nordamerikas, er ist im kollektiven Gedächtnis der Amerikaner so fest verankert, wie Bertolt Brecht oder Thomas Mann zum literarischen und kulturellen Erbe Deutschlands gehören.

Wer Frosts Leben angemessen nacherzählen will, kommt nicht an dem erwähnten grundlegenden Werk von Lawrance Thompson vorbei. Dessen dreiteilige Robert-Frost-Biografie erschien zwischen 1967 und 1976 (der dritte Band wurde nach Thompsons Tod von seinem Assistenten Roy H. Winnick vervollständigt). Es ist das mit Abstand reichhaltigste Werk zum Leben Robert Frosts, aber auch dasjenige, das am meisten Kritik auf sich gezogen hat. Die Kontroversen, die um das Bild, das Thompson von Frost gezeichnet hat, entstanden sind, offenbaren auf ihre Weise die widersprüchliche Persönlichkeit des Dichters, geben darüber hinaus aber auch zu der Frage Anlass, inwieweit ein Menschenleben überhaupt "objektiv" beschrieben werden kann. Zu groß ist das Risiko, eine Biografie auf Grund von Neigungen oder Abneigungen, Kritiklosigkeit oder zu großem Argwohn, ungenügender Dokumentenlage oder anderer Unzulänglichkeiten in eine Schieflage zu bringen. Auch bei größtmöglichem Bemühen, unvoreingenommen zu berichten, begibt sich der Biograf, die Biografin immer in Gefahr. Im Fall von Robert Frost sollten Biografen ganz besonders vorsichtig vorgehen. 1976 schrieb B.J. Sokol, heute emeritierter Professor für Englisch an der Goldsmiths University of London: "Frost hat in die Bemühungen seiner Biografen sein ganzes Leben lang obsessiv und mit List hineingepfuscht, indem er sowohl fiktionalisiert als auch falsch berichtet hat" , und er zitiert aus einem Brief Frosts an seinen Freund Sidney Cox vom 1. Januar 1937: "Vor ungefähr fünf Jahren habe ich beschlossen, meine Korrespondenz mit Dir zu verpatzen, indem ich sie durcheinanderbrachte, so wie Gott die Sprache der Erbauer des Turms zu Babel durcheinandergebracht hat. (…) Teilweise wegen meiner Abneigung gegen alle gedruckte Korrespondenz, die ich gesehen habe."

Eine zu große Nähe des Biografen zur porträtierten Person führt zu zwei Grundproblemen einer jeden Biografie, nämlich einerseits der Gefahr, die Lebensumstände des Künstlers mit dessen Werk in unangemessener Weise zu vermengen, das heißt vor allem, letzteres aus ersteren heraus deuten zu wollen, andererseits ihn als Menschen bloßzustellen. Die Journalistin und Schriftstellerin Elizabeth Shepley Sergeant, die mit Frost gut bekannt war und viele Gespräche mit ihm geführt hat, betont in diesem Zusammenhang, dass Frosts erster Gedichtband A Boy’s Will von 1913 weder als buchstäbliche noch als symbolische Autobiografie seiner letzten Jahre als Heranwachsender oder seiner ersten Ehejahre gelesen werden darf. Dieser Hinweis aus dem Jahr 1960 ist umso gewichtiger, als es immer mehr ein beliebter Zeitvertreib der Literaturkritik (und vor allem der an Literatur interessierten Öffentlichkeit) geworden ist, hinter den Figuren eines Romans oder dem lyrischen Ich in Gedichten die verborgene Persönlichkeit des Autors, der Autorin aufzustöbern – wie es Robert Frost nur zu oft von Seiten seiner Biografen widerfahren ist. Hat er das Beschriebene tatsächlich so erlebt und empfunden, ist die geschilderte Begegnung tatsächlich so abgelaufen, war der erwähnte Ort tatsächlich der Schauplatz des berichteten Erlebnisses? Wie es wirklich war – so ein Satz macht neugierig, weckt und befriedigt unseren voyeuristischen Trieb, heute noch mehr als damals. Und die Autoren und Autorinnen der Gegenwart beteiligen sich lustvoll an diesem Spiel: sie überschwemmen uns geradezu mit Literatur, die unter dem Etikett des autofiktionalen Schreibens die Grenze zwischen Dichtung und Wirklichkeit immer mehr verwischt, um sie schließlich ganz aufzuheben. Oder vorgibt, sie aufzuheben, denn letzten Endes bleibt der Autor, die Autorin doch gewöhnlich Herr des Textes.

Die Besonderheiten von Robert Frosts Dichtung liegen auf mehreren Ebenen. Zum einen ist es der Inhalt der Gedichte, die regelmäßig von Alltagsumständen und -tätigkeiten ausgehen, vor allem aus dem bäuerlichem Umfeld Neuenglands, das Frost zeit seines Lebens als Aufhänger für seine Gedichte herangezogen hat. Dieser Umstand hat dann auch zu der – oberflächlichen – Wahrnehmung geführt, Robert Frost sei eine Art Heimatdichter Neuenglands. Aber das ländliche Ambiente war für ihn nur die Quelle, aus der er tiefere Bedeutung schöpfen konnte: nie bleibt er bei dem äußeren Sujet stehen, so gut wie immer dient es ihm als Sprungbrett auf eine höhere, allgemein menschliche, oft spirituelle oder metaphysische Ebene. Die Inhalte seiner Werke sind so zeitlos, wie die darin angesprochenen Themen zeitlos sind: die Natur, mit der sich der Mensch abmüht, die (ländliche) Arbeitswelt, menschliche Beziehungen, Liebe, Leid und Tod. Er thematisiert die Fragwürdigkeit menschlichen Strebens, die Konfrontation mit Rückschlägen, Enttäuschungen und Unglücksfällen, das Verhältnis des Menschen zu Gott (und den grundlegenden Zweifel an dessen Existenz). Und immer wieder auch – offen oder verdeckt – den Vorgang des dichterischen Schaffens selbst.

Die zweite Besonderheit ist die Sprache in Frosts Gedichten, die er im Zusammenleben mit der Landbevölkerung entwickelt hat. Er hat die Sprechweise der Neuengländer aufmerksam studiert, sie in sich aufgenommen und die für ihn darin liegende Poesie in seinen Gedichten zum Klingen gebracht. Die Alltagssprache seiner Nachbarn hat ebenso Eingang in sein Werk gefunden wie ihre dialektalen und sogar individuellen Eigenheiten. Gleichzeitig finden sich in den Gedichten Reminiszenzen an klassische antike und englischsprachige Dichtung. Das Resultat dieser konzentrierten, Jahre dauernden Arbeit des Aufnehmens und Verarbeitens ist eine einzigartige Verschmelzung von Inhalt und Klang zu dem, was er später den sound of sense nannte. Den natürlichen, unregelmäßigen Rhythmus der gesprochenen Sprache bricht Frost dabei gegen das regelmäßige Metrum, was dazu führt, dass die Aussage eines Satzes umso klarer hervortritt. Wir werden darauf noch näher eingehen.

Ein weiteres Merkmal liegt in der klassischen Form, die Frost seinen Gedichten gab. Bereits in seinen Jugendjahren galt der Reim als aussterbende Form der Lyrik. Robert Frost war sich seines unbezähmbaren Freiheitsdrangs (und dessen Gefahren) bewusst, er kannte sich und seine Art, überall ein square peg in a round hole zu sein, und erlegte sich die konventionellen formalen Beschränkungen auch als Mittel der Selbstdisziplinierung auf. Als er seine ersten Gedichte schrieb, waren bereits viele seiner Vorläufer und zeitgenössischen Kollegen dazu übergegangen, die Fesseln abzustreifen und sich freierer Formen zu bedienen. Blankverse (die sich noch an ein Metrum halten und zu Frosts Zeiten bereits eine lange Tradition aufwiesen) und so genannte freie Verse, die ganz oder teilweise auf metrische und klangliche Bindungen verzichten, waren bereits verbreitet, in der englischsprachigen Dichtung wurden sie vor allem durch Walt Whitman (1819 – 1892) und Frosts Zeitgenossen T.S. Eliot (1888 – 1965) und Ezra Pound (1885 – 1972) eingeführt. Frost experimentierte zwar mit diesen Formen, weigerte sich aber, sie zur allgemeinen Grundlage seiner Dichtung zu machen. Wie Tennisspielen ohne Netz komme ihm das Dichten ohne Reim vor, sagte er wiederholt.

Unser Anliegen ist es, den deutschen Lesern und Freunden der englischsprachigen Lyrik – oder der Lyrik überhaupt – Robert Frost nahezubringen. So großartig er als Dichter war, so schwierig war er als Mensch. Doch ist das eine nicht vom anderen zu trennen, und so kann die Beschäftigung mit Frosts Biografie vielleicht in exemplarischer Weise die vielschichtige Beziehung zwischen dem Leben und dem Werk eines großen Künstlers erhellen.

Im Vorfeld dieser Arbeit sind uns Äußerungen begegnet, die suggerieren wollten, Robert Frost sei "out", er gehöre einer vergangenen Epoche an. Dieser Ansicht möchten wir entschieden widersprechen, und sie zu widerlegen ist ein wesentliches Ziel dieses Buches.








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