Leseproben aus: Dorothea Rapp, Oktaven der Liebe



Wie bei anderen Büchern aus diesem Themenkreis ( P. Lauster, Die Liebe; Ch. Kessler, amo ergo sum) zitiere ich hier keine längeren Auschnitte aus dem Text, sondern eine Reihe prägnanter Kernaussagen.



S. 52 f.:
Ekstasen aus Lust, in welchen sich der schöpferische Eros – der kosmogonische Eros – zeigt, vermittelt uns neben der Kunst auch die Energie der sexuellen Liebe. Wir werden, wenn wir uns ihnen nähern, von diesen Energien der Lebenskräfte mitgerissen. Wir vertrauen uns dabei Kräften an, die wir nicht kennen, die uns aber instinktiv begaben. Und weil diese Begabung so ungeheuerlich ist, hoffen wir, durch sie immer weiter in andere Räume zu gelangen. Jenseits vom Fortpflanzungsgeschehen wollen wir hier die Lust rein, d.h. ohne Zweck – auch ohne Angst, dass ein fremder Zweck sich einschleicht – genießen. Vielleicht auch hoffen wir, in diesen anderen Räumen einer neuen Wesensbegegnung des Du, des Liebespartners, entgegengeführt zu werden. Die Ekstase führt uns jedoch zunächst nur an eine Grenze. Die Sekunden-Zeitspanne, in der eine Überschreitung geschieht, löst nur unsere Bewusstseinskräfte auf. Diese bleiben an jener Grenze zurück. Erwachend aus dem Schlaf der Lust sind wir zumeist nur uns selbst begegnet. Wir haben uns selbst genossen; nicht das Du, den Partner der Liebe. Ja, er hat mitgespielt; aber haben wir uns gegenseitig begriffen?

S. 54 f.:
Liebe und Sexualität ist nicht identisch. Sexualität ist anonym; Liebe kann nur individuell, persönlich auftreten. Sexualität scheut das Bewusstsein; Liebe braucht Bewusstsein. Wo beides zusammentrifft, kann allerdings menschlich zusammenwachsen, was in der Natur getrennt wurde. An diesem Ort kann auch die Sexualität des Menschen sich verwandeln.
Sexualität ohne Liebe hat in diesem Sinne überhaupt keine Chance. Und weil wir einen so dürftigen Begriff von Liebe haben oder einen zu hohen, abstrakt abgehobenen, wird an ihre Stelle gern die pralle Kraft der Sexualität gesetzt.

S. 60 f.:
Wer keine Sehnsucht kennte, bliebe in sich verschlossen, verkümmerte in der Enge seiner selbst. Insofern kann es keinen Menschen ohne Sehnsucht geben. In der Sehnsucht offenbart sich seine Entelechie, sein innerstes Wesen, das im Ursprung schon das "Echo" seines Zieles zu hören vermag. Sehnsucht nach Werden, Sehnsucht nach Evolution ist seinem Gehör, seinem tiefsten Gehorsam eingeschrieben.
Jedoch nicht alle Sehnsüchte zeigen dieses Urmodell. Dieses liegt meistens unentdeckt im Menschen verborgen. Statt dessen tauchen an der Peripherie ungeprüfte Wünsche wie ein Wetterleuchten gefährlicher Gewitter auf, die den Menschen mitreißen wollen in den Strudel falscher Ziele. Sie wollen ihm vorgaukeln, alles sei ohne "Anlauf", ohne Sehnsuchtsschule zu erreichen. Doch wenn die Einübung in das Ersehnte entfällt, wird das Ziel schal und alt. Die Zeit hat es überholt. "Lehre die Menschen die Sehnsucht", dieser Satz von Saint-Exupéry drückt aus, dass eine wirkliche, wesentliche Sehnsucht nicht einfach da sein kann, sondern erst im Blick auf das erstrebte Ziel und sein Umfeld erlernt sein will. Kein Ziel kann ohne Sehnsuchtsanlauf ersprungen werden. Auf diesem Schulungsweg verändert sich der strebende Mensch mit seinem Ziel. Aus der Mitte seiner Sehnsucht enstpringen neue Kräfte: Kräfte des Herzens.
(...)
Wenn wir von Sehnsucht sprechen, wird immer die Sehnsucht nach dem Menschen-Du im Vordergrund stehen. Diese Sehnsucht erscheint als stärkste von allen. Keine Theorie über das soziale Leben könnte ersetzen, was die Schule der Sehnsucht nach dem anderen Menschen, nach einem Du, vermag.

S. 74 f.:
Der moderne Mensch, der Hektik unserer Zeit in Beruf und Verkehr hingegeben, ebenso in ein ständig wechselndes Aufeinanderprallen mit anderen Menschen geworfen, ein solcher Mensch mag von Treue im alten Stil nicht mehr sprechen; sie könnte, zu nah an eine Kohlhas′sche starre Rechthaberei gerückt, weder dem Lauf der Zeit noch der menschlichen Entwicklung gerecht werden. Wollte man das individuelle Schicksal dieses Menschen in ein Bild fassen, das deutlich macht, wie es sich sozial verzweigt, wie es fest verbunden ist mit bestimmten Menschen, dann aber wieder trennende Schnitte bei anderen vorweist, Umwege geht, Brücken baut, andere wieder zerstört, wie es aufprallt auf soziale Mauern, dieses Bild ergäbe die Gestalt des Labyrinths. Dessen Wege verlaufen im gleichen Hin und Her: vorwärts und zurück, mal gradlinig, dann wieder gebogen, mal einsichtig, dann aber wieder in einer gänzlich unverständlichen Richtung. In diesem labyrinthischen Realbild würde die Forderung, dass es nur einen einzigen übersichtlichen Weg der Treue zu einem bestimmten Menschen geben dürfte, den Tod für alle bedeuten.

S. 84
In diesem Sinne kann Treue nur getanzt werden. Ich tanze sie ein, wenn ich in das lebendige, entwicklungsfähige Labyrinth der Beziehungswege hineingehe. Ich tanze sie mit erhöhtem Bewusstsein aus: an jeder Schwelle, da auf einen Liebes-Tod eine Ich-Geburt folgt und auf einen Ich-Tod eine neue Liebes-Geburt, muss ich Bewusstsein einsetzen. Finde ich in seiner Mitte das Du, so habe ich zugleich mich gefunden. Und nur in mir kann Treue sein.

S. 88 f.:
Einer, der tätig ist und Entscheidungen trifft, zückt mit jeden Schritt, den er tut, ein zweischneidiges Schwert. Er kann nicht etwas initiieren oder entscheiden, jemanden heilen oder helfen, ohne zugleich einem anderen zu schaden. Nur der Untätige könnte – theoretisch – schuldlos bleiben; aber gerade dies wäre seine Schuld: die Schuld, notwendige Taten zu unterlassen und damit unfähig zur Entwicklung zu sein. Tätig-Sein bedeutet, Entwicklung zu wollen. Der Willensschritt ins tätige Leben zerreißt zunächst einmal das Band, das den Menschen an das Naturleben, an das "Paradies" binden will. Die Vertreibung aus dem Paradies erfolgte aus der Konsequenz eines Schuldigwerdens durch eine Tat - und läge diese auch nur darin, dass die Frage nach der Erkenntnis gestellt wurde.

S. 94:
Es gibt keine Eindeutigkeit des Menschen. Seine Unteilbarkeit (Individualität) ist nicht einfach, sondern vielschichtig. Diese Vielschichtigkeit ist zumeist auch widersprüchlich. So muss der Mensch in seine Widersprüche hinuntertauchen, will er sich selbst finden. Er bedarf dazu jedoch auch des erkennenden Blicks des anderen Menschen.
Wenn ich auf mein Leben blicke, sehe ich, dass ich voller Narben bin; Narben von Wunden, die mir Menschen zugefügt haben. Von vielen Treuebrüchen, zerstörten Erwartungen, von Schicksalsschlägen verwundet, hatte mein Lebens- und Seelengefüge immer wieder eine Zeit lang geblutet, bis es sich wieder schließen und vernarben konnte. Doch wenn ich heute auf diese vernarbten Wunden schaue, bemerke ich, dass sie zu Augen geworden sind.

S. 110:
Liebe muss zur Kunst werden.

S. 118:
Gerade im zwischen-menschlichen Interesse ist die individuelle moralische Ich-Kraft des Menschen von größter Bedeutung. Keiner kann das Du erkennen und erleben, der nicht ein "Ich" ist.



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