Leseproben aus: Hansjörg Schertenleib, Das Regenorchester



S. 36 ff., 66 ff., 134 ff.



[1] Nach der Trennung (1) (S. 36 ff.)

[2] Nach der Trennung (2) (S. 66 ff.)

[3] Aus Niamhs Leben: wie viele irische Mädchen findet sie eine Stellung als Hausangestellte in England. Oxford 1958-1959. (S. 134 ff.)






[1]

Nach der Trennung (1) (S. 36 ff.)

Sobald es dunkel wurde, verkroch ich mich im Bad, ihr früheres Bad, nun war es leer, geruchlos. Ich machte die Tür zu, löschte das Licht und hockte mich auf dem Boden vor die eingeschaltete Elektroheizung. Ich liebte das Geräusch des Gebläses und den heißen Luftstrahl, der über meine angezogenen Beine und über Gesicht und Hände strich. Der eingebaute Thermostat schaltete das Gerät alle paar Minuten aus, dann saß ich im Dunkeln und wartete ungeduldig darauf, dass der rote Kontrollknopf anging, weil sich das Gebläse wieder einschaltete. Ich wusste, warum mich das beruhigte: Es erinnerte mich an die Badetage der Kindheit, an denen ich nur ganz kurz in der Wanne geblieben war, um dafür umso länger vor dem Gebläse des Heizofens kauern zu können, das große Badetuch über mich und den Ofen gebreitet, geborgen und an der Wärme wie in einer Höhle, allein zwar, aber gerettet, die Augen geschlossen, wie ein Kind, das glaubt, wenn es keinen sieht, ist auch keiner da.

In den Nächten lag ich wach, das erste Mal in meinem Leben geplagt von Schlaflosigkeit, und sah den Lichtern zu, die vorbeifahrende Autos und Traktoren über die Bretter der Dachschräge streifen ließen. Die Ängste und Befürchtungen, die mich wachhielten, waren die gleichen, die alle Verlassenen kennen: Wird mich je wieder eine Frau ansehen, gar lieben? Lande ich im Internet auf Kontaktseiten, auf Ibiza-Partys für Singles, beim Speed-Dating? Gehöre ich in den Donnerstagstreff für ′Geschiedene Männer′ im Hinterzimmer von ORGANIC FOOD, in den Kreis weinender Männer, die sich an den Händen halten und geloben, mindestens zweimal in der Woche zu duschen, weder alkohol- noch tablettenabhängig zu werden und einmal am Tag warm zu essen, und zwar nicht aus der Pfanne, sondern mit Messer und Gabel von Tellern, die auf Tischen stehen, die wir nur für uns schön gedeckt haben? Werde ich zu einem der vielen Männer mit leblosen Augen und hängenden Schultern, die sich eine Harley-Davidson oder eine teure Stereoanlage kaufen, Männer, die den Frauen nicht in die Augen, sondern auf die Brüste sehen? Werden die Frauen von jetzt an Mitleid mit mir empfinden, wird sich je wieder eine in mich verlieben?

Dass ich mich wieder verlieben würde, wusste ich. Jede kam in Frage, redete ich mir ein, fast jede: die Frau vor dem ABBEY HOTEL, die einen Schirm aufspannte und deren verträumter Blick mich streifte, als sie in den regnerischen Abendhimmel sah; die Touristin, die stöhnend ihren Tramperrucksack gegen die Wand an der Bushaltestelle lehnte und sich mit gekräuselter Lippe eine Haarsträhne aus dem schmalen Gesicht blies; die Verkäuferin bei FAMILY MEATS mit den grünen Augen und rot gescheuerten Fingern, die sich nach jedem Kunden eine Scheibe Wurst in den Mund schob; die Frau im FORGE vielleicht doch nicht, die, kaum stand ihr Begleiter an der Bar, um zwei weitere Gin and Tonic zu holen, ein Handy aus der Handtasche zog, eilig eine Textmessage tippte, sich dabei verschämt umsah und mit lackierten Nägeln auf den Tisch trommelte; auch die Rothaarige eher nicht, die ein T-Shirt mit der Aufschrift ′I lost my virginity′ trug, vor dem DOMS mit ihrem hohen Keilabsatz in einen Hundehaufen trat und auf ihren Begleiter losging, weil er sie nicht gewarnt hatte. Als sich die Frau umdrehte, um den Kot am Randstein abzustreifen, sah ich, was auf ihrem Rücken stand: ′But I still have the box it came in.′

Es gab so viele Frauen, denen ich ansah, dass ihnen etwas fehlte, dass ihnen jemand fehlte. Ich vielleicht? Wie aber brachte ich sie dazu, mich zu sehen und zu begreifen, dass ich für sie bestimmt war? Oder blieben mir, dem Verlassenen, etwa nur noch die Verlassenen und Verletzten, die Versetzten und Hintergangenen, die Einsamen, Unglücklichen und Enttäuschten, die Geschiedenen? Hatte ich nur noch Chancen bei Verheirateten in meinem Alter, die sich früher, jung und auf der Suche nach der großen Liebe, niemals für mich interessiert hätten, die sich nun aber, in Sicherheit und gelangweilt, nach Abenteuern sehnten? Frauen, die sich Jahrzehnte verausgabt hatten mit Karriere, Kindern und Hobbys und nun überzeugt waren, nichts dafür bekommen zu haben, nichts! Frauen, die sich mit dem Lippenstift größere Münder malten, als sie hatten, Frauen, denen die Enttäuschung des eigenen Scheiterns die Mundwinkel nach unten gezogen hatte, die die Lippen spitzten und das Kinn hoben, wenn sie in der Scheibe eines Pubs ihr Spiegelbild erblickten, und deren harte Augen nur blitzkurz die alte Verletzlichkeit verrieten, die natürlich noch da war? Ich staunte und träumte, ich wartete, ich übte Vergessen.

Und ich lauschte dem Regen, dem Knirschen der losen Dachrinne und versuchte nicht zu denken, nichts, versuchte einfach nur dazuliegen und ruhig zu atmen, ein Stück Treibholz, knochenbleich von Sonne und Wasser, fein geschmirgelt von Kiesel und Sand, leicht wie ein Kind und doch groß wie ein Erwachsener. Ein Körper in Ruhestellung, mehr nicht, ein Mann im Bett. Oder doch ein Tier in seinem sicheren Bau? Die Schnecke baut ihr Haus nicht, es wächst ihr aus dem Leib. Aber wir denken immer, das weiß jedes Kind, ob uns dies nun passt oder nicht, und oft genug ist es das Falsche, was wir denken, weil wir es nicht besser wissen. Oder nannte man das am Ende gar nicht denken, was mich marterte und wachhielt, nannte man das etwa erinnern? Ich will dich zurück, schrie ich, aber wie sollte sie mich hören, ich brachte den Mund ja nicht auf, keinen Millimeter.

So lag ich wach und wartete, dass die Sonne kam, wenigstens die.


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[2]

Nach der Trennung (2) (S. 66 ff.)

SIEBEN

In der Nacht auf den 20. Juni brachte ich sie um, im Schlaf, nicht sie, nein, nur die Frau, die im Traum in der langen Reihe vor mir stand, sich plötzlich umdrehte und eine geöffnete Schere auf mich richtete. Daran, das war mir bereits im Traum bewusst, hätte jeder Psychiater seine helle Freude: eine Frau, die mit einem spitzen Werkzeug auf mich zeigte. Und die ich daraufhin umbrachte. Auch über die Tatsache, dass ich keine Ahnung hatte, warum wir hier auf dieser verschatteten Ebene anstanden, würde zu reden geben. Und natürlich das Messerchen, das mir wie ungefähr und als sechster Finger in der Hand lag, das Messer, mit dem ich eine geschmeidige Sichelbewegung ausführte, einen Schwung wie ein Bauer, der dem Gras mit der Sense zu Leibe rückt. Eine Bewegung, die der Frau den Kopf mit einem Hieb vom Körper trennte. Himmel, wie rot das Blut aus ihrem Halsstumpf spritzte in einem Traum, der ansonsten ganz in Grau spielte! Ich wickelte die Tote in ein Tuch und legte sie auf einem Felsvorsprung in die Sonne, die nun warm schien. Warum ich wusste, dass es nicht meine Exfrau war? Weil ich es wusste. Weil ich das Gesicht der Frau nicht zu sehen bekam. Sie hatte gar keins. Sie war einfach nur da, um von mir aus dem Weg geräumt zu werden. Ihr Gesicht hätte ich gesehen. Von beiden Seiten wie von vorn. Und von hinten. Gesehen und erkannt. Im Licht wie im Dunkeln.

Ich erwachte, es war bereits hell, ich hörte Vögel vor dem Fenster, vertieft in ein mehrstimmiges Gespräch, das hin und her ging, von Baum zu Baum, wie ich mir ausmalte. Wie kann ich wissen, dass sie nicht über mich reden, ich verstehe ihre Sprache ja gar nicht, ging mir verwundert durch den Kopf, blieb liegen und hörte der aufgeregten Debatte zu. Als die Vögel verstummt waren, stand ich auf.

Mein Haus war leer und still, meine Stimme, ich hatte angefangen, mit mir selbst zu reden, klang fremd in den Zimmern ohne Antwort. Einsam aber war ich nicht. Oder redete ich etwa gar nicht mit mir, sondern mit ihr, ihr hinterher? Nein, es waren Selbstgespräche, die keine Antwort verlangten, nicht von den Möbeln, die ich anredete, nicht von ihrem Papagei, den ich beschimpfte und der sich mit gesträubtem Federkleid beleidigt gackernd abwandte, ansonsten aber den Schnabel hielt, gar aufhörte, sein Gefieder in Ordnung zu halten, und den einen Satz, den er beherrschte, partout nicht mehr aussprechen wollte, ihm zum Glück. Wie alt werden Papageien? Alt, sehr alt. Er wird dich überleben. Ich hörte auf, melancholische Musik von sensiblen jungen Männern zu hören, die verlorenen Geliebten nachtrauerten, und kaufte meine allererste Bob-Marley-CD. Hatte ich mir die Songs über gescheiterte Liebe angehört, weil ich unglücklich war? Oder war ich unglücklich, weil ich mir eben diese Songs anhörte? Für Reggae hatte ich mich nie interessiert, nicht einmal während meiner Haschisch-Jahre; damals hatte ich komplizierten Jazzrock gehört, der meine Gedanken vor sich hertrieb wie der Hund die Katze. Das Grinsen, das sich auf meinem Gesicht breitmachte, als ich die CD von Marley das erste Mal spielte, zeigte mir, dass ich gefunden hatte, wonach ich gesucht hatte: Besänftigung, Gelassenheit. Ich hörte nichts anderes mehr, nur noch Reggae, ich fing an, mich anders zu bewegen, weicher, leichter, dabei fühlten sich meine Knochen schwerer an, runder. Ich wurde zum gelassenen Flaneur im eigenen Haus. Ließ das Telefon läuten, schaltete den Anrufbeantworter aus und lauschte meinem verlangsamten Herzschlag nach.

Hassen alle Vögel Reggae? Papagei VIAN hob jedenfalls zu hellem Kreischen an und hüpfte flügelflatternd auf und nieder, sobald Bob Marley lief. Da das praktisch Tag und Nacht der Fall war, hatte der Vogel ein schweres Leben: Am besten gefiel es ihm in der Porch neben der Eingangstür, dort war er vor Marley sicher. Und ich vor seinem Gemecker. Ich fing an, die Hintertür zu benutzen, um dem beleidigten Vogel und seinem traurigen Blick zu entgehen. Mir tat die Musik gut. Ich lächelte, ich grinste. Grundlos? Darüber sollen sich andere den Kopf zerbrechen, sagte ich mir und verblüffte Nachbarn mit meiner Fröhlichkeit, der sie nicht trauten.

Alle, denen ich begegnete, schienen vorbereitet auf die schwierige und unangenehme Begegnung mit einem Verlassenen; ihre Mienen trugen jene Mischung aus mitleidiger Nachsicht und alarmierter Vorsicht zur Schau - immerhin drohte ein Zusammenbruch -, die mich zum Lachen reizte: Entspannt euch, hätte ich ihnen gerne zugerufen, es ist keiner gestorben, noch nicht. Was erwarteten sie von mir? Weinflecken auf den Jeans? Eine Bierfahne, einen Bart? Den Geruch ungewaschener Achselhöhlen? Glaubten sie, dass ich mich selber vernachlässigte und, Trübsal blasend, in meinem zugemüllten Haus verwahrloste? Dass ich valiumabhängig wurde und endlose Briefe an sie schrieb, die ich nie abschickte? Verstanden sie meine gute Laune als Verhöhnung der Lage, in der ich mich befand? Melancholie steht einem verlassenen Mann in der Lebensmitte nicht gut zu Gesicht, sie wird als Griesgrämigkeit, Verbitterung oder - noch schlimmer - als Verzweiflung ausgelegt. Die Freundlichkeit der Leute, die mir begegneten, war so übertrieben, dass sie der Heuchelei nahekam. Ich grinste sie trotzdem an, ich konnte nicht anders. Der Reggae hatte die Last, die mir auf die Brust drückte, nur bewegt, das war mir klar, und zwar von einem Ort, an dem sie jeder, sogar ich, sehen konnte, in die finsterste Ecke; aus den Augen, aus dem Sinn. Aus der Welt geschafft hatte Marleys Reggae diese Last natürlich nicht, das musste ich schon selbst besorgen. Wann? Irgendwann. Später! Warum sollte ich nach der Antwort suchen, von der ich wusste, dass es sie noch nicht gibt? Kann man das Gedächtnis zwingen, etwas preiszugeben, was einem nie bewusst geworden ist? Vorerst federte ich auf Gummibeinen durch mein Haus, grinsend, entspannt und befreit, zumindest für den Augenblick. Nicht einmal die Bienen, dieser fleißige und verblüffend rasch wachsende Staat, brachte mich aus der Ruhe. Mittlerweile waren es Dutzende oder wohl eher Hunderte, ein straff organisiertes Heer, das zielstrebig mein Schreibzimmer durchflog und unermüdlich seiner Aufgabe nachging, die Königin zu mästen. Der Stock des Volkes hing im zugemauerten zweiten Kamin in der Nordwand des Hauses, wie ich wusste, seit ich mit der Taschenlampe auf den Dachboden gestiegen war. Die Bienen ge-langten durch den Spalt in der Bretterdiele in mein Schreibzimmer und dann durch dessen Fenster ins Freie; zurück in ihren Stock flogen sie durch einen fingerbreiten Riss im Außenputz des Kamins. Ein Kreislauf, den ich nicht unterbrechen durfte, nicht nach dem Dokumentarfilm, den ich gesehen hatte. Bienen alterten nicht, sie schlüpften, sie fraßen und wuchsen, arbeiteten, flogen und starben. Aber nicht durch mich. Darum ließ ich das Fenster des Schreibzimmers nun immer offen, Tag und Nacht, sogar bei Wind und Wetter. Ich selbst verhielt mich ruhig und ging den gehorsamen Arbeitern aus dem Weg. Mein Schreibzimmer gehörte ihnen, es herrschte reger Flugverkehr, Biene um Biene schlüpfte durch den Bretterspalt, kurvte in sicherer Höhe über Tisch und Laptop und verschwand durch das offene Fenster. Wir ließen uns arbeiten, wir ließen uns leben. Mittlerweile tippte ich Niamhs Geschichte im Wohnzimmer ab - warum auch nicht?


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[3]

Aus Niamhs Leben: wie viele irische Mädchen findet sie eine Stellung als Hausangestellte in England. Oxford 1958-1959. (S. 134 ff.)

Im Zimmer, in dem die Bridgenachmittage der Missus stattfanden, gab es einen Teppich, der mir besonders gefiel. Er hatte die Farbe von Sand. Aber nicht von Sand in Irland, sondern von Sand, der in der Sonne glüht, von einem Gelb, in das ich mich am liebsten gelegt hätte, so warm war es. In der Mitte des Teppichs gingen Kamele im Kreis, eins hinter dem andern, allein, ohne Menschen, die sie führten oder auf ihnen ritten. Wenn ich diesen Teppich besonders gründlich saugte, konnte ich die Kamele riechen. Eines Tages stand plötzlich die Missus hinter mir. Sie stellte den Fuß auf den Schalter des Hoovers, den wir nur zu zweit die Hintertreppe hochbrachten, Bernadette und ich, so schwer war er. ′Ein schönes Stück, nicht?′, fragte die Missus in die plötzliche Stille. Ich nickte. ′So einen wertvollen Teppich wirst du nie besitzen, Mädchen. Nie! Vergiss das nicht. Und jetzt mach dich an die Arbeit!′

Ein Feuer, das nicht richtig zog und rauchte, Briketts, die nicht exakt gestapelt in der Messingbox lagen, ein Absatz, der nicht glänzte wie der Rest des Schuhs, eine Serviette, die nicht so gefaltet war, dass dem Gast das blutrot eingestickte Monogramm AK für Anne Keating ins Auge sprang, die falsche Seidenbluse, die ich auf dem Bett im Ankleideraum zurechtgelegt hatte, die Kommode aus Kirschholz, die ich mit der Politur für Teak poliert hatte: Der kleinste Fehler genügte, und Mrs Keating ging auf mich los. Wenn sie mit Bernie, Veronica oder Pete redete, war ihre Stimme sanft. Sie lachte, gurrte und schlug kokett die Hände vor den Mund, als amüsiere sie sich prächtig mit ihren Angestellten. Bei mir bekam ihre Stimme einen kalten Ton, ihre Haltung wurde steif, und sie trat ganz nahe an mich heran, als müsse sie mich einschüchtern. Oder als habe sie Angst vor mir. Es gab mehr als eine Gelegenheit, in der ich befürchtete, gleich schlägt sie dich, so wütend machte ich sie. Ich ging ihr so oft wie möglich aus dem Weg, und Bernie, Veronica und Pete lobten mich bei jeder Gelegenheit vor ihr. Dass sich auch Mr Keating für mich einsetzte, machte die Sache allerdings nur noch schlimmer. Ich wurde den Verdacht nicht los, die Missus sei auf mich eifersüchtig, obwohl ich ihr dazu keinen Grund gab - zumindest nicht, bis ihr Sohn Brendan aus Sheffield zurückkam ...

Die Keatings hatten zwei Kinder: die sechzehnjährige Elizabeth und ihren vier Jahre älteren Bruder Brendan. Elizabeth war hochnäsig, führte sich auf wie eine Prinzessin und behandelte Bernie, Pete und mich mit einer Herablassung, die lächerlich war. Mit Veronica war sie herzlich, als sei sie ihre beste Freundin. Es dauerte, bis ich begriff, dass sie etwas gegen die irischen Hausangestellten ihres Vaters hatte. Elizabeth ist das einzige Mädchen, das ich in meinem ganzen Leben kennenlernte, das ich nicht ausstehen konnte.

Am 1. September 1958 sah ich Brendan das erste Mal. Er hatte ein Jahr lang in Sheffield im Büro einer Baufirma gearbeitet, weil er bald in der Geschäftsleitung der Firma seines Vaters anfangen sollte. Nun wohnte er wieder bei seinen Eltern, im großen Eckzimmer im ersten Stock. Brendan stürmte in die Küche, begrüßte Bernadette und tauchte den Zeigefinger in den Kuchenteig, den sie eben angerührt hatte. Ich sah ihn an und ahnte, was es heißt, sich zu verlieben. War Liebe eine Krankheit? Ein körperlicher Zustand wie Trauer oder Glück? Ich wäre am liebsten im Erdboden versunken. Er war schlank und ungefähr gleich groß wie ich. Seine Haare waren fast schwarz, und wenn sie ihm in die Stirn fielen, strich er sie mit einer ungeduldigen Handbewegung nach hinten. Seine Ohren waren zu groß und standen ab, auch darum wirkte er hilflos und jünger, als er war. Das traurige Gesicht, das er machte, wenn er lächelte, gefiel mir am besten. Seine Stimme war kratzig, als sei er erkältet. Ich hätte ihm stundenlang zuhören können. Bernie stellte uns vor, und als wir uns die Hand gaben, wurden wir beide rot.

So hat sie angefangen, die Liebe meines Lebens.

Kaum war Brendan wieder aus der Küche verschwunden, nicht ohne seinen Finger noch einmal in den Teig zu tauchen und abzulecken, fing Bernie an zu singen, wobei sie mich grinsend ansah und mit dem Zeigefinger drohte:
Come butter come
Come butter come
Little Johnny‘s at the gate
Waiting for his buttered cake
Schon am nächsten Tag sahen wir uns wieder. Ich schleppte den Kohlekessel nach oben, er trat auf dem ersten Stock, auf dem sein Zimmer war, auf die Hintertreppe heraus und nahm mir den Kessel ab. Worüber wir redeten, während wir nebeneinander die Stufen hochgingen, weiß ich nicht mehr. Aber meine Hände zitterten vor Aufregung, daran erinnere ich mich und dass ich seine Nähe gleichzeitig so beruhigend fand, als würde ich ihn schon lange kennen. Die Kohlen waren für den Salon im zweiten Stock, in dem Brendans Mutter ihre Bridge-Runden gab. Brendan blieb vor der Tür stehen, die auf den Korridor hinausführte, und stellte den Kessel ab. Und dann küssten wir uns. Er machte nicht etwa den ersten Schritt, so, war es nicht, wir wollten es beide. Wir fielen uns in die Arme und küssten uns. Ohne ein Wort. Es klingt kitschig, ich weiß, aber der Kuss dauerte ewig. Es war mein erster richtiger Kuss. Und seiner auch, da bin ich mir sicher.

Von da an verging kein Tag, an dem wir uns nicht sahen. Sahen und küssten. Wir trafen uns nur auf der Hintertreppe, zuoberst, auf dem letzten Absatz. Dort war es dunkel und eng, es gab kein Fenster, nur die Verlockung der Tür, die auf den Gang ging, der vor meinem Zimmer endete. Aber in mein Zimmer legten wir uns erst, nachdem wir das erste Mal miteinander geschlafen hatten. Am 13. November 1958, in Wheatley, im Haus von Andrew, einem Freund von Brendan. Es war für uns beide das erste Mal. Die Kondome hatte Andrew besorgt. Neben Brendans Freund wusste nur Bernie von unserer Liebe. Veronica wollte ich nicht einweihen, ich traute ihr nicht. Natürlich schrieb ich Nella von Brendan. Ich schrieb ihr sogar, dass ich keine Jungfrau mehr sei und Brendan liebe. Ihm selbst hatte ich das noch nicht gestanden, obwohl er nicht aufhören konnte, mir zu sagen, wie er mich liebe. Bestimmt hielt ich mich auch zurück, weil Bernie mir geraten hatte, ihm nicht alle Gefühle zu verraten, die ich für ihn empfand.

Seit Brendan und ich ein heimliches Liebespaar waren, behandelte mich die Missus noch schlechter. Als merke sie, dass ich mit ihrem Sohn zusammen war. Als könne sie seine Liebesschwüre hören, die mir galten und nicht ihr. Als spüre sie die Leidenschaft, mit der er mich liebte und die er ihr nie würde entgegenbringen können. Ihre Stimme war jetzt nicht nur eiskalt, sondern auch laut, wenn sie mich zurechtwies oder mir Befehle gab. Sie schrie mich an, sobald sie mich sah, in ihren Augen funkelte Hass.


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