Leseproben aus: Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern



S. 100 ff., 424 f., 701 ff.



[1] Im Kapitel "Letzte Hungerkunst" führt Sloterdijk den "Akrobatismus" als auf die Spitze getriebenes Übungsideal vor. (S. 100 ff.)

[2] Von der Übertragung kultureller Errungenschaften auf folgende Generationen (S. 424 f.)

[3] Aus dem "Ausblick": Die globale Krise als moralische Autorität (S. 701 ff.)





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Im Kapitel "Letzte Hungerkunst" führt Sloterdijk den "Akrobatismus" als auf die Spitze getriebenes Übungsideal vor. (S. 100 ff.)

4 LETZTE HUNGERKUNST
KAFKAS ARTISTIK

Die zeittypische Neigung der Anthropologen, die Wahrheit über homo sapiens bei den Behinderten zu suchen, spiegelt sich in der Literatur der Moderne auf breiter Front. Daß es in einzelnen Fällen vom Existentialismus der Behinderten zu dem der Akrobaten nur ein Schritt ist, belegt unser Hinweis auf den armlosen Geiger Unthan. Zu zeigen bleibt, warum der Übergang von der Kondition der Behinderten zum Akrobatismus nicht bloß eine Idiosynkrasie von Marginalen war, wie Unthan sie in Reaktion auf den angeborenen Stimulus ausbildete oder wie sie sich bei Hugo Ball, dem Autor der christlichen Asketen-Biographien, einstellte, als er versuchte, die geistigen Deformationen der Weltkriegsära durch eine »Flucht aus der Zeit« zu übersteigen. Bei diesem Aufstand gegen das Jahrhundert geriet er in die Gesellschaft der Eremiten die eintausendfünfhundert Jahre zuvor aus ihrer Zeit geflohen waren.

Ich erläutere im folgenden, zunächst an einem literarischen Modell, später in psychologischen und soziologischen Konturen, auf welche Weise der Akrobatismus ein immer weitere Kreise erfassendes Merkmal moderner Reflexion über die conditio humana wurde: Dies geschah, als man auf den Spuren des allgegenwärtigen Nietzsche im Menschen das nicht festgestellte, das entsicherte, das zu Kunststücken verurteilte Tier erkannte. Mit der Blickwende zum Akrobaten kommt ein weiterer Aspekt der epochalen Kehre zum Vorschein, die ich als Trend zur Entspiritualisierung der Askesen beschreibe. Von Nietzsche haben wir den Hinweis auf die asketologische Dämmerung übernommen und uns davon überzeugt, daß der wünschenswerte Untergang der repressiv asketischen Ideale keineswegs das Verschwinden des positiven Übungslebens nach sich zieht. Möglicherweise zeigt erst die Asketendämmerung, als die wir die Wende zum 20. Jahrhundert deuten, rückwirkend und unter stark veränderter Beleuchtung das dreitausendjährige Reich der metaphysisch motivierten Askesen in seiner ganzen Ausdehnung. Vieles spricht dafür: Wer Menschen sucht, findet Asketen; wer Asketen beobachtet, entdeckt Akrobaten.

Zur Substantialisierung dieses Verdachts, dessen erste Formulierungen auf die moralarchäologischen Grabungen des anderen Schliemann zurückgehen, möchte ich Franz Kafka als Zeitzeugen aufrufen. Hinsichtlich seines Forschungsansatzes liegt die Vermutung nahe, er habe den Impuls, der von Nietzsche kam, schon in jungen Jahren aufgenommen und so stark verinnerlicht, daß er die Herkunft seiner Fragestellung vergaß – weswegen es in Kafkas Werk praktisch nirgendwo eine explizite Bezugnahme auf den Verfasser der Genealogie der Moral gibt. Er hat die Anregungen in Richtung einer fortschreitenden Absenkung des heroischen Tonus weiterentwickelt, bei gleichzeitiger Verstärkung des Sinns für die universelle asketische und akrobatische Dimension menschlicher Existenz.

Um den Augenblick des Stabwechsels von Nietzsche zu Kafka zu markieren, erinnere ich an die bekannte Seiltänzer-Episode im 6. Teil des Prologs von Also sprach Zarathustra, in der Zarathustra den zu Tode gestürzten Akrobaten als seinen ersten Schüler annimmt – oder wenn nicht als Schüler, so als seinen ersten Geistesverwandten unter den Menschen der Ebene. Er tröstet den Sterbenden, indem er ihn darüber aufklärt, warum er nichts mehr zu fürchten habe – kein Teufel werde ihn holen und ihm das Leben nach dem Tode sauer machen. Worauf der Gestürzte dankbar erwidert, er verliere nicht viel, wenn er nur das Leben verliere:

»Ich bin nicht viel mehr als ein Tier, das man tanzen gelehrt hat, durch Schläge und schmale Bissen.«
Man hat in dieser Äußerung die erste Konfession des akrobatischen Existentialismus vor sich. Diese minimalistische Aussage gehört unzertrennlich zu Zarathustras Antwort, die dem Verunglückten einen noblen Spiegel vorhält:
»‘Nicht doch’, sprach Zarathustra, ‘du hast aus der Gefahr deinen Beruf gemacht, daran ist nichts zu verachten. Nun gehst du an deinem Beruf zugrunde: dafür will ich dich mit meinen Händen begraben.’«
Man kann die Pointe des Dialogs nicht mißinterpretieren. Er hat die Bedeutung einer Urszene, da in ihr eine communio neuen Typs konstituiert wird: kein Gottesvolk mehr, sondern ein fahrendes Volk, keine Gemeinschaft der Heiligen, sondern eine der Akrobaten, nicht Beitragszahler in einer versicherten Gesellschaft, sondern Mitglieder des Vereins der gefährlich Lebenden. Das animierende Element dieser bis auf weiteres unsichtbaren Kirche ist das Pneuma der bejahten Gefahr. Der vom Seil gefallene Akrobat ist nicht zufällig der erste unter denen, die sich auf Zarathustras Lehre zubewegen. In seiner letzten Lebensminute fühlt sich der Seiltänzer von dem neuen Propheten verstanden wie von keinem zuvor – als das Wesen, das, selbst wenn es beinahe nur ein Tier war, das man tanzen gelehrt hat, aus der Gefahr seinen Beruf gemacht hatte.

Kafka hat nach diesem Prolog zum Roman des Akrobaten die nächsten Kapitel verfaßt. Bei ihm ist die Akrobatendämmerung schon um einige Helligkeitsgrade klarer, weswegen man die Szenerie in einem tagesnahen Licht erkennt. Es erübrigt sich hier, näher darauf einzugehen, daß Kafka in eigener Person ein Anhänger turnerischer Übungen, vegetarischer Diäten und zeitüblicher Hygiene-Ideologien war.43 In dem Konvolut von Sätzen, die er aus seinen Oktavheften exzerpierte und in einer numerierten Liste zusammenstellte (von Max Brod später unter dem Titel Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg ediert), lautet der erste Eintrag:
»Der wahre Weg geht über ein Seil, das nicht in der Höhe gespannt ist, sondern knapp über dem Boden. Es scheint mehr bestimmt stolpern zu machen, als begangen zu werden.«44
Niemand wird behaupten, diese Notiz verstehe sich auf Anhieb von selbst. Die beiden Sätze werden transparent, wenn man sie als Fortsetzung der von Nietzsche eröffneten Szene begreift - fortgesetzt allerdings in einer Richtung, die von Nietzsches heroischen und aufstiegsfreudigen Intentionen entschieden abweicht. Zwar wird der »wahre Weg« weiterhin mit dem Seil verknüpft, es ist jedoch aus der Höhe in Bodennähe versetzt. Es dient weniger als Gerät, auf dem Akrobaten ihre Trittsicherheit demonstrieren, denn als Stolperfalle. Das scheint zu besagen: Die Aufgabe, den wahren Weg zu finden, ist bereits schwierig genug, weswegen Menschen nicht in die Höhe steigen müssen, um gefährlich zu leben. Das Seil soll nicht mehr deine Fähigkeit testen, auf der schmalsten Basis die Balance zu halten, es hat dir eher zu beweisen daß du, wenn du zu sicher daherkommst, schon beim Geradeausgehen stürzen wirst. Dasein als solches ist eine akrobatische Leistung, und niemand kann mit Gewißheit sagen, welche Ausbildung die Voraussetzungen liefert, um sich in dieser Disziplin zu bewähren. Darum weiß der Akrobat nicht mehr, welche Übungen ihn vor Absturz bewahren – die ständige Aufmerksamkeit ausgenommen. Diese Schwundstufe von Artistik zeigt keineswegs einen Bedeutungsverlust des Phänomens an, sie verrät im Gegenteil, wie die artistischen Motive auf alle Lebensaspekte übergreifen. Das große Thema der Künste und Philosophien des 20. Jahrhunderts – die Entdeckung des Gewöhnlichen – zieht seine Energie aus der Akrobatendämmerung, die sich in eins mit ihm vollzieht. Nur weil die Esoterik unserer Zeit die Identität von Gewöhnlichkeit und Akrobatik enthüllt, bringen ihre Forschungen nicht-triviale Ergebnisse zutage.

Auch Kafkas hermetische Notiz läßt sich dem Komplex der Entwicklungen zuordnen, die ich die Entspiritualisierung der Askesen nenne. Sie belegt die Zugehörigkeit des Autors zu der großen Herausdrehung der Modernen aus einem über Jahrtausende wirksamen System von religiös codierten Vertikalspannungen. Zahllose Menschen waren in diesem Weltalter zu Akrobaten der Überwelt ausgebildet worden, geübt in der Kunst, mit der Balancierstange der Askese über den Abgrund der »Sinnenwelt« hinwegzugehen. Zu ihrer Zeit repräsentierte das Seil den Übergang aus der Immanenz in die Transzendenz. Was Kafka mit Nietzsche verbindet, ist die Intuition, daß beim Verschwinden der Überwelt das gespannte Seil zurückbleibt. Warum das so ist, wäre völlig unverständlich, wenn sich nicht eine tiefere raison d’etre für die Existenz von Seilen nachweisen ließe, eine Begründung, die von ihrer Funktion als Brücke zur Überwelt zu trennen wäre. Tatsächlich existiert eine solche Begründung: Das Seil steht bei beiden Autoren für die Einsicht, daß der Akrobatismus im Vergleich zu den üblichen religiösen Formen des »Hinübergehens« das resistentere Phänomen bildet. Auf ihn ist Nietzsches Wendung von einer der »breitesten und längsten Thatsachen, die es giebt«, übertragbar. Mit der Blickwende von der Askese zur Akrobatik wird ein Universum von Phänomenen aus dem Hintergrund gehoben, das die größten Gegensätze auf dem Spektrum zwischen Geistesfülle und Körperkraft mühelos umspannt. Hier finden Wagenlenker und Gelehrte, Ringkämpfer und Kirchenväter, Bogenschützen und Rhapsoden zusammen - vereint durch gemeinsame Erfahrungen auf dem Weg zum Unmöglichen. Das Weltethos wird auf einem Konzil der Akrobaten formuliert.

Das Seil kann als Metapher des Akrobatismus nur fungieren, sofern man es als gespanntes vorstellt – daher gilt es, auf die Spannungsquellen, ihre Verankerungen und die Modalitäten der Kraftübertragung zu achten. Solange die Seilspannung unter metaphysischem Vorzeichen erzeugt wurde, mußte man einen Zug von der Überwelt her annehmen, um die ihr eigene Intensität zu erklären. Diesen Zug von oben erfuhr die durchschnittliche Existenz durch das allgegenwärtige Beispiel der Heiligen, denen aufgrund von Anstrengungen, die man gern übermenschlich nannte, zuweilen die Annäherung an das Unmögliche gewährt wurde. Man vergesse nicht: superhomo ist ein erzchristliches Wort, in dem das hohe Mittelalter sein intensivstes Anliegen aussprach – es wurde am Ende des 13. Jahrhunderts erstmals für den französischen König Ludwig den Heiligen verwendet! Die Entkräftung eines solchen jenseitigen Pols zeigt sich in erster Linie darin, daß immer weniger Menschen auf das Hochseil streben. Einem egalitären und nachbarschaftsethischen Zeitgeist gemäß, begnügt man sich jetzt mit einer amateurischen, allenfalls bodenturnerischen Auslegung des Christentums. Selbst ein heiliger Hysteriker wie Padre Pio hatte zu der transzendenten Herkunft seiner Wundmale so wenig Vertrauen, daß er allem Anschein nach der Versuchung erlag, die blutenden Flächen an seinen Händen mit Hilfe von ätzenden Säuren hervorzubringen und bei Bedarf aufzufrischen.45 Seit dem 19. Jahrhundert steht die Montage eines alternativen Generators zum Aufbau existentieller Hochspannung auf der Tagesordnung. Tatsächlich wird dieser in Stellung gebracht, indem man eine äquivalente Dynamik im Inneren der sich selber richtig verstehenden Existenz nachweist.

Erneut muß der Name Nietzsches fallen, da er es war, dem es gelang, im »Leben« als solchem ein zugstarkes Gefälle a priori zwischen Können und Mehr-Können, Wollen und Mehr-Wollen, Sein und Mehr-Sein aufzudecken – auch legte er die aversiven oder bionegativen Tendenzen offen, die nicht selten unter dem Vorwand der Demut auf das Wollen des Nicht-Wollens und des Immer-weniger-sein-Wollens zielen. Die inzwischen allzu gängigen Reden vom Willen zur Macht und vom Leben als ständiger Selbstüberwindung liefern die Formeln für die inhärente Differentialenergetik des an sich arbeitenden Daseins. Mögen die kuranten Entspannungsideologien auch alles tun, um diese Verhältnisse unkenntlich zu machen – die modernen Protagonisten der Suche nach dem »wahren Weg« sind nicht müde geworden, an die elementaren Tatsachen des von oben geforderten Lebens zu erinnern, wie sie sich vor ihrer Verdeckung durch Trivialmoralen, humane Kumpaneien und Wellnessprogramme darstellen. Daß Nietzsche sie in heroistischen Codierungen präsentierte, während Kafka die niederen und paradoxalen Figuren bevorzugte, ändert nichts an der Beobachtung: Beide ziehen am gleichen Strang. üb Zarathustra in seiner ersten Ansprache sagt: »Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Tier und Übermensch ... « oder ob Kafka das Seil als Stolperfalle für Selbstgerechte knapp über dem Boden gespannt sein läßt - es handelt sich beide Male zwar weder um dasselbe Seil noch um dasselbe Kunststück, aber um Seile aus derselben Fabrik, die seit ältester Zeit Zubehör für Akrobaten herstellt. Den technischen Hinweis, daß Nietzsche zur Kraft- und Fülle-Abrobatik neigte, während Kafka der Schwäche- und Mangelakrobatik den Vorzug gab, brauche ich hier nicht weiter zu verfolgen. Der bezeichnete Unterschied könnte nur im Rahmen einer allgemeinen Theorie der guten und schlechten Gewohnheiten und einer Betrachtung über die Symmetrien zwischen stärkenden und schwächenden Trainings erläutert werden.


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Von der Übertragung kultureller Errungenschaften auf folgende Generationen (S. 424 f.)

8 MEISTERSPIELE
VON DEN TRAINERN ALS GARANTEN DER ÜBERTREIBUNGSKUNST

Cura und cultura

Der Begriff »Kultur« bezeichnet in seiner am wenigsten konfusen Definition Dressur-Systeme zur Übertragung von regionallebenswichtigen kognitiven und moralischen Gehalten auf folgende Generationen. Weil diese Übertragung allenthalben die Quelle ernsthafter Intelligenzarbeit bildet, entwickeln alle real erfolgreichen, hinreichend reproduktionsfähigen Kulturen eine Art von ontologischem Zentralorgan, in dem das Urteil über die Lebenswichtigkeit oder Nicht-Lebenswichtigkeit von »Dingen« gefällt wird – sechstausend Fuß jenseits der philosophischen Unterscheidung zwischen Substanziellem und Akzidentiellem. »Dinge« sind daher immer schon Verhandlungssachen auf dem Forum der Überlebensintelligenz – in verwandtem Sinn hat Bruno Latour den »Ding«-Begriff für die Agenda einer Welt pluraler Parlamente zukunftweisend reformuliert.83 In diesem Organ, das in älterer Zeit durchgehend presbyterokratisch, das heißt in Ältestenräten, in jüngerer Zeit tendenziell demokratisch, das heißt aus einer Mischung aus Institutionenintelligenz, Expertenmeinung und Mehrheitsmeinung, verwaltet wird, residiert eine unspezialisierte »totipotente« Urteilskraft, die schon lange vor dem Auseinandertreten der Realitätsfelder in Ethisches, Politisches und Ästhetisches ihren Aufgaben nachgeht.

Aus realitätsgeeichtem Gutdünken verfügt sie über die beiden wichtigsten Kategorien der praktischen Vernunft – das Ernstfallurteil und das Prioritätsurteil. Das heißt, sie erkennt Ausnahmezustände und entscheidet über die Reihenfolge, in der die wichtigsten Dinge zu erledigen sind. Daß Fehlbarkeit zu ihren Arbeitsbedingungen gehört, entwertet die Tätigkeit dieser Urteilskraft in keiner Weise.

Die »Pflege«-Dimension von cultura bezieht sich hier auf die Sorge um die ewige Wiederkehr des Ähnlichen in den Nachkommen. Wo cura und cultura, Sorge und Pflege, auftreten, stehen sie fürs erste im Dienst der Ähnlichkeit. Sie verlangt von den Mitgliedern einer Population, sich immer so zu verhalten, daß aus der Summe der Handlungen in der Gruppe hinreichend ähnliche Junioren hervorgehen können. Wer sich hier sorglos oder nicht-pflegend verhält, läßt Wildwuchs zu, der öfter dekadent als originell erscheinen muß. In diesem Zusammenhang ist erneut an die neophobe Grundstimmung der älteren Kulturen zu erinnem.84 Das Wunder der späten, liberal aufgebrochenen Zivilisationen läßt sich vor diesem Hintergrund noch einmal ausdrücklich bezeichnen: Es bedeutet die Möglichkeit, daß eine gegebene Population ihrer Reproduktionsfähigkeit, ihrer didaktischen Techniken und der Attraktivität ihres Lebensmodus hinreichend gewiß geworden ist, um es sich leisten zu können, auf die althergebrachte Unterdrückung von unwillkommener Variation zu verzichten und sich statt dessen zu dem neuen, riskanten Habitus breiter Variationstoleranz zu bekennen. Daraus ergeben sich die typischen Spätkulturprobleme, die uns heute täglich beschäftigen – sie erwachsen aus der nicht-friedens-fähigen Koexistenz von variationsfeindlichen und variationsfreundlichen Gruppen innerhalb einer zivilisatorisch ungleichzeitigen Staatsbevölkerung.


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Aus dem "Ausblick": Die globale Krise als moralische Autorität (S. 701 ff.)

Der Satz »Du mußt dein Leben andern!« liefert die Grundform des Rufs an alle und an keinen. Zwar richtet er sich unmißverständlich an einen bestimmten Empfänger, aber er spricht neben ihm auch alle anderen an. Wer ihn ohne Abwehr vernimmt, erlebt durch ihn die Begegnung mit dem Erhabenen in einer persönlichen Adressierung. Erhaben ist, was durch Vergegenwärtigung des Überwältigenden dem Beobachter die Möglichkeit seines Untergangs im Übergroßen vor Augen stellt, dessen Vollzug jedoch bis auf weiteres aussetzt. Das Erhabene, dessen Spitze auf mich zeigt, ist persönlich wie der Tod und unfaßbar wie die Welt. Für Rilke war es die dionysische Dimension der Kunst gewesen, die ihn aus der verstümmelten Apollo-Statue anredete und ihm das Gefühl der Begegnung mit etwas unendlich Überlegenem einflößte. Heute hingegen ist die autoritative Stimme in Kunstwerken kaum noch zu hören. Befehlende Autorität kommt auch nicht mehr den niedergelassenen »Religionen« und den Kirchenräten zu, geschweige denn den Räten der Weisen, falls man den Ausdruck noch ohne Ironie gebrauchen kann.

Die einzige Autorität, die heute sagen darf: »Du mußt dein Leben ändern!«, ist die globale Krise, von der seit einer Weile jeder wahrnimmt, daß sie begonnen hat, ihre Apostel auszusenden. Sie besitzt Autorität, weil sie sich auf etwas Unvorstellbares beruft, von dem sie der Vorschein ist – die globale Katastrophe. Man braucht nicht religiös musikalisch zu sein, um zu begreifen, warum die Große Katastrophe zur Göttin des Jahrhunderts werden mußte. Da sie über die Aura des Ungeheuren verfügt, kommen ihr die wesentlichen Merkmale zu, die bisher den transzendenten Mächten zugeschrieben wurden: Sie bleibt verhüllt, gibt sich aber in Zeichen schon zu erkennen; sie ist unterwegs, jedoch in ihren Vorboten bereits authentisch da; sie offenbart sich individuellen Intelligenzen in grellen Visionen und übersteigt zugleich die humane Fassungskraft; sie beruft Einzelne in ihren Dienst und macht sie zu Propheten; in ihrem Namen wenden sich ihre Delegierten an die Mitwelt, werden aber von den meisten wie Belästiger abgewehrt. Aufs Ganze gesehen, geht es ihr kaum anders als dem Gott des Monotheismus, als er vor kaum dreitausend Jahren auf die Bühne trat: Schon dessen Botschaft war zu groß für die Welt, und nur die Wenigen waren bereit, seinetwegen ein anderes Leben zu beginnen. Aber hier wie dort verschärft die Verweigerung der Vielen die Spannung, die über dem humanen Kollektiv liegt. Seit die globale Katastrophe mit ihrer partiellen Enthüllung begonnen hat, ist eine neue Gestalt des absoluten Imperativs in der Welt, die sich unter der Form einer scharfen Ermahnung an alle und an keinen richtet: Ändere dein Leben! Andernfalls wird früher oder später die vollständige Enthüllung euch demonstrieren, was ihr in der Zeit der Vorzeichen versäumt habt!

Vor diesem Hintergrund läßt sich erklären, woher das Unbehagen in der heutigen Ethikdebatte stammt, gleich, ob es ihre akademischen oder ihre publizistischen Ausprägungen betrifft. Es folgt aus dem Mißverhältnis zwischen den Ungeheuerlichkeiten, die seit der Ära des Kalten Krieges nach 1945 in der Luft liegen, und der lähmenden Harmlosigkeit sämtlicher gängigen Diskurse, gleich ob sie gesinnungs- oder verantwortungsethisch, diskurs- oder situationsethisch argumentieren - um von der hilflosen Reanimation der Wert- und Tugendlehren nicht zu reden. Auch die vielzitierte Rückkehr der »Religion« ist nicht viel mehr als das Symptom eines Unbehagens, das auf seine Auflösung in einer luziden Formulierung wartet. In Wahrheit kann die Ethik allein in der Erfahrung des Erhabenen gründen, heute wie seit dem Beginn der Entwicklungen, die zu den ersten ethischen Sezessionen führten. Unter seinem Appell begann die Menschheit der zwei Geschwindigkeiten ihre Kampagne durch die Zeiten. Allein das Erhabene ist imstande, die Überforderung aufzurichten, die Menschen Kurs aufs Unmögliche nehmen läßt. Was man die »Religion« nannte, war immer nur als Vehikel des absoluten Imperativs in seinen nach Ort und Zeit verschiedenen Redaktionen von Bedeutung. Der Rest ist das Geschwätz, von dem Wittgenstein zu Recht sagte, man solle ihm ein Ende machen.

Für die theologisch Interessierten folgt hieraus: Der Eine Gott und die Katastrophe haben mehr miteinander gemeinsam, als man bisher registrierte, nicht zuletzt den Ärger mit den Menschen, die sich nicht dazu aufraffen können, an ihn oder sie zu glauben. Es gibt nicht nur die von Coleridge benannte »willentliche Suspension des Unglaubens« an die Fiktion, ohne welche kein ästhetisches Verhalten möglich wäre. Noch wirksamer ist die willentliche Suspension des Glaubens ans Reale, ohne welche kein praktisches Arrangement mit dem Gegebenen zustande kommt. Die Einzelnen finden sich mit der Wirklichkeit kaum je ohne eine Beimischung von Entwirklichung zurecht. Die ungläubige Entwirklichung unterscheidet auch kaum zwischen Vergangenheit und Zukunft: Ob die Katastrophe eine vergangene ist, aus der man hätte lernen sollen, oder eine kommende, die mit geeigneten Maßnahmen abzuwenden wäre – immer weiß das Nicht-Glauben-Wollen die Dinge so einzurichten, daß der gewünschte Grad an Entwirklichung erreicht wird.


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43 Vgl. Rainer Stach, Franz Kafka. Jahre der Entscheidungen, Frankfurt am Main 2002.

44 Franz Kafka, Sämtliche Werke, hg. von Peter Höfle, Frankfurt am Main 2008, S. 1343.

45 Diese Enthüllungen, die der Enttarnung eines Dopingbetrugs gleichkommen, werden dargelegt in dem Buch von Sergio Luzzatto: Miracoli e politica nell'Italia del Novecento, Turin 2007. Vgl. Dirk Schümer, Ein Säurenheiliger, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. Oktober 2007.

83 Vgl. Making Things Public. Atmospheres of Democracy. Cambridge und London, ed. by Bruno Latour, Peter Weibel a. a. O., bes. Kapitel 4: From Objects to Things, S. 250-295.

84 Siehe oben S. 189f.

         
         
         
         
     
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