Leseprobe 1 aus: A. V. Thelen, Die Insel des zweiten Gesichts


dtv-Ausgabe, S. 247 (3. Buch, II. Kapitel, 2. Abschnitt)


(Vigoleis und Beatrice sind aufgrund der Verhältnisse, in denen sie zu leben gezwungen sind - sie hausen in einer Unterkunft, die als Bordell und Schmugglerhöhle dient und besitzen keine Pesete mehr -, soweit gekommen, dass sie einen gemeinsamen Selbstmord in Erwägung ziehen)

Es wird hoch auf den Mittag zugegangen sein, da sagte Beatrice leise, doch sehr entschlossen: "Komm, mach dich fertig, wir gehen ins Wasser."

Sie sagte: ins Wasser, und nicht etwa ins Kino, ins Café Alhambra oder an die Kathedrale. Aber sie hatte auch gesagt, ich solle mich fertigmachen, also fertigmachen zum Fertigmachen, und darum fing ich erst einmal an mich zu rasieren.

Die verflossene Nacht war zuviel für sie gewesen, das begriff ich, doch sagte ich nichts; ich schor mich mit ungewöhnlicher Sorgfalt. Das hat nichts mit einem standesgemäßen Selbstmordregelement zu tun, wie es von farbentragenden Studenten oder Offizieren in Ehren gehalten wird: schwarzer Anzug und steifer Hut. Ich säuberte mich, weil ich das schon zwei Tage nicht mehr besorgt hatte. Ich bin nie frei von Eitelkeit gewesen, was meine äußere Erscheinung betrifft. Kein Spiegelgeck, das bei weitem nicht, aber die Stiefel habe ich gerne blank und die Falten der Hose sollen sich nicht verleugnen. Als Raucher hätte ich mir nach einer solchen Aufforderung sicher eine Zigarette angezündet.

Dieser Tag hat sich als ein ungewöhnlich heißer in unser beider Erinnerung gebrannt, ein wahrer Hundstag war es, ob auch der betreffende Stern schon nicht mehr regierte. Die Schilderung des Ganges an den Ort der Selbstvernichtung kann daher nicht ohne dicke Schweißtropfen und geballte Staubwolken auskommen. Haben wir einen letzten Blick auf unsere Habe geworfen, ade du mein Bidetto, mein Schreibmaschinchen, mein lyrisches Werk; leb wohl Pantoffel und Kragenknopf, Dachshaarpinsel und Büstenhalter, Indianerkleid und Unkulunkulu (das war Beatricens Schirm, von dem noch zu sprechen sein wird), tschüß das allesamt, auf Nimmerwiedersehen? Ich schloss die Zellentür ab, das taten wir sonst nie, aber wer ewig wegbleibt, nimmt seine Vorsorge.

Die Köchin des Stundenturms, ein schon älteres Mädchen mit eisernen Knochen und einem Busen, der sich noch unter den Armen breitmachte, Bet-Maria, begrüßte uns lebhaft und wies über uns in den Tag hinauf, wo ein flimmernder Dunst das Blau verhüllte, mit Worten, die ich nie mehr vergessen habe: welch ein strahlender Tag, möge der Herr uns auch morgen diese Sonne bescheren, und dass die allerreinste, die allerseligste, die unbefleckt empfangene Gottesmutter auf der Docke denen allen ihren gnädigen Beistand gewähre - und nun zeigte sie auf die Hochburg der Lust, die wir für immer verließen.

Langsam und würdig, wie die Leidtragenden unseres eigenen Begräbnisses, gingen wir in die Stadt hinein, durch die Stadt hindurch und an den Hafen hinaus, um uns am äußersten Ende des Piers ins Meer zu stürzen. Dort steht der Leuchtturm auf einem erhöhten Umgang, ich hülfe erst Beatrice aufs eiserne Geländer, sie ist so schlecht im Klettern und auch nicht schwindelfrei, und stiege hinterher. Ich bin auch kein behender Turner, aber so ein Gitter bereitet mir keine Schwierigkeiten. Das war nebenbei bemerkt eine wortlose Übereinkunft, wie wir nachträglich feststellen mussten, eine der vielen, wo zwei mit Leib und Seele aufeinander eingestellte Menschen im richtigen Augenblick das Verkehrte tun.

Beim ersten Dock angekommen, sahen wir etwas, das uns zwang den Plan zu ändern. Zwischen Orangenschalen und Sardinenbüchsen, Kehricht und Strohwischen und einer in den Farben des Regenbogens schimmernden Lache Öl ragte der aufgetriebene Balg einer Katze aus dem Wasser; darauf saß eine Ratte und fraß ein Loch in das Floß. Ich wies auf dieses Symbol der Vergänglichkeit und wollte gerade Trakl aufsagen, da zog Beatrice mich fort von solcher Stätte der Verwesung, die einem Zahn noch Leckerbissen bot: "... in Verfaultem süß und schal lautlos ihre Schnäbel mähen." Das wäre uns doch auch so gegangen, pardon, das würde uns doch auch so gehen, hat sie gedacht, also fort an einen rattenfreien Strand: - "komm, wir gehen nach Porto Pi!"

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