Leseprobe 3 aus: Albert Vigoleis Thelen, Die Insel des zweiten Gesichts



dtv-Ausgabe, S. 722 f. (4. Buch, XVII. Kapitel, 4. Abschnitt)






(Thelen beginnt auf Mallorca ein Buch über den hereinbrechenden Wahnsinn des Hitlerregimes zu schreiben, und beschreibt dabei die Verhältnissse in seiner Heimat am Niederrhein)



Statt nun ein Buch zu schreiben über Spanien, das ich zu lieben und zu verstehen begann, schrieb ich ein Buch über Deutschland, das ich nie geliebt hatte und immer weniger verstand.

"'Die kleine Stadt'", wäre das nicht ein guter Titel für dein Buch?"

"Er wäre sogar ausgezeichnet, wenn Heinrich Mann mir nicht zuvorgekommen wäre. Ich nenne den Roman schlichtweg 'Hünengräber ohne Hünen'."

Der Vorwurf: Hitler hatte angeordnet, dass inskünftig alle standesamtlichen Trauungen mit nationaler Prächtelei vor sich gehen sollten. Der Standesbeamte musste sich kräftig aufputzen, das Rathaus musste kräftig aufgeputzt werden, die zu Trauenden, die Zeugen, die Ehehalten, alles musste in Wichs erscheinen, germanischem Brauchtum gemäß, mit Mondriten, Kleinviehopfern, wüsten Metgelagen im Blothus; Nerthusdienst, Enthirnung der Sippenältesten durch einäugige Leichendämonen, mit anschließender Weissagung aus den Hirnen durch Priesterinnen; Brautnacht unter der zur Weltenesche Yggdrasill erklärten heiligen Irmgardislinde und Fackelzug um dieselbe; Heidhrun, die Führerziege, und Saerhimnir, das Führerschwein, fressen dem Brautpaar nach der Erkennung aus der Hand. Der Standesbeamte reitet den Hengst Svadilfari, der Bürgermeister den achtbeinigen Sleipnir; es erdröhnt der Aufmarsch der Mistelformationen. Kriegsgefangene werden umgeführt, Nidhögger, der Neiddrache, bläst Feuer wider Juda; es rauscht in den Lüften, groß klafternde Walküren singen das Horst-Wessobrunner-Lied. Der Fenriswolf geht um, suchend, wen er verschlinge. Wer aber gleichgeschaltet ist, der ist gefeit gegen den reißenden Zahn. Zur Besiegelung des neuheidnischen Bundes soll ein Christ am Runenstein der Siep, einem Waldquell, geschlachtet, sein Gebein in alle vier Weltgegenden geworfen werden, um böser Zukunft zu gehalten. Anschließend eine Kranzniederlegung am "Grabmal des Unbekannten Gehirns".

Da stellt der Gauleiter fest, dass in der ganzen Gemeinde schon kein Christenmensch mehr aufzutreiben ist. Die Bluthochzeit mit einem Festbann von Tausenden aus nah und fern droht mit einem Schlage in nichts zusammenzusinken, denn die Juden, die als Ersatz hätten dienen können, sind schon totgeschlagen worden. In diesem, dem aufdunsenden Reich kritischsten Augenblick hebt der Brautmann den Arm, gebietet Schweigen, zeigt auf seine Braut, dann auf sich selbst. Er schlägt das Zeichen des Kreuzes: er und sein Mädchen seien heimlich Christen geblieben, dem Glauben der Väter hätten sie nicht abgeschworen. Staunen, man schlägt an die Schilde, Raben krächzen. Dann fällt erneut der Spruch am Weltenbaum: "Hinschlachten!" Der Bürgermeister schwingt den Riesenhammer Mjölhnir und erschlägt ihn, Hinnes, den Weber, und sie, Minchen, die Winderin, die zusammen einen Wochenlohn von 142 Mark aufbringen. Als beide gefällt unter der Esche liegen, packt ihn das Grausen, des Mordens noch nicht gewohnt. Ein Griff an den Kopf, da merkt er erst, dass er kein Gehirn mehr hat. Könnte er noch denken, dann würde er denken, verdammt noch mal, der Führer denkt ja für dich! Das Paar aber, es kann jetzt keine Kinder mehr zeugen! Indessen weiß der Reichsbegattungsmeister Rat. An einem hänfenen Strick zieht er Audhumla herbei, die Urkuh, und lässt sie aus einem salzigen Eisblock Buri herauslecken, den ersten hirnlos geborenen Führermenschen.

Nebenhandlungen waren in die Geschehnisse eingeflochten, Aussprüche führender Stadtgenossen aus den Zeitungsberichten wörtlich angeführt. Die Namen aller handelnden Personen entsprachen der Wirklichkeit, da ich sie so überzeugend in ihrer Selbstschändung nicht hätte erfinden können. Der Roman war schon weit gediehen, eigentlich fertig bis auf das letzte Kapitel: da kam auch für ihn das Ende so unerwartet wie für seine Helden.

         
         
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