Aus der Schreibwerkstatt (Januar 2008)

Ausschnitt 1 aus einem Text mit dem Arbeitstitel "Der Sterber"







(...)

Als eines Tages sein Herz ganz unvermittelt einen winzigen, aber klar wahrnehmbaren Stolperschritt einlegte, erschrak Bronski, und für einen Augenblick schoss jäh eine stumme Angst in ihm hoch. Deutlich spürte er, wie sein Herzschlag einen Moment innehielt, um dann nach dieser kleinen Verzögerung umso kräftiger und bis in den Hals hinaufjagend wieder einzusetzen. Neben der klammen Furcht, die ihm dieses Ereignis einflößte, war er über die Maßen verwirrt und konnte sich keinen rechten Reim darauf machen. Handelte es sich um ein gewöhnliches, bei jedem Menschen gelegentlich vorkommendes Aus-dem-Takt-Geraten des Herzens oder war dieses sekundenkurze Ereignis der Vorbote einer ernsten Gefahr?

Am nächsten Tag widerfuhr ihm dasselbe noch einmal, und am Tag darauf wieder. Dabei hatte er nichts anders getan als ruhig am Tisch zu sitzen, das eine Mal nach dem Essen mit einer Tasse Kaffe vor sich, das andere Mal Zeitung lesend, eine Zigarette in der Hand. Ob er sich an einen Arzt wenden sollte? Er befand sich gerade am Beginn einer mehrwöchigen Arbeitsreise, weit weg von der Stadt, in der er lebte, und ein Arztbesuch wäre mit beträchtlichen Umständen verbunden gewesen. Sein Terminplan war auf Wochen hinaus gefüllt, und er kannte niemanden in der Gegend, in der er sich gerade aufhielt. Sich einfach aufs Geratewohl irgendeinem fremden Quacksalber anzuvertrauen, war ihm eine widerwärtige Vorstellung. Außerdem befürchtete er, sobald er einmal mit einer ärztlichen Konsultation angefangen hatte, in eine Behandlungsroutine hineinzugeraten, die ihm nichts als Scherereien mit weiß Gott welchen unbequemen Veränderungen einbringen würde. Aus dieser Furcht vor allem Unbekannten, die ihn sein Lebtag begleitet hatte, war die Neigung entstanden, alle Aufgaben, so sie denn nicht irgendwie umgangen werden konnten, erst einmal selber in die Hand zu nehmen, und Probleme, die er ohne fremde Hilfe nicht lösen konnte, beiseite zu schieben. Dieser Haltung zufolge nahm er bereits beim fünften oder sechsten Mal wieder davon Abstand, dem Herzstolpern in Form von unnötigen Angstaufwallungen nachzugeben. Er wollte sich von jeglicher Panik im Hinblick auf einen sich vielleicht ankündigenden Herzanfall oder dergleichen fernhalten, da er neben der Furcht vor unangenehmen Konsequenzen auch einen diffusen Respekt vor den Kräften seiner eigenen Seele hegte. Er argwöhnte, falls er sich zu nachdrücklich in eine Angst vor einem Infarkt oder Ähnlichem hineinsteigerte, womöglich einen solchen Vorfall durch zu intensive innere Anteilnahme erst herbeizurufen. So vermied er es konsequent, sobald sich dieses tückische Stolpern bemerkbar machte, ihm mit bangen Gedanken oder Gefühlen zu begegnen. Vielmehr versuchte er, sich von dem beunruhigenden Geschehen in seiner Brust augenblicklich abzulenken, indem er einfach den nächstbesten Gedankenfetzen, der ihm gerade durch den Kopf trieb, rasch in den Mittelpunkt seines bewussten Denkens zog. Das finale Gefühl einer Hingabe an Angst und Tod wollte er sich erst in jenem fernen Augenblick gönnen, den er einst für geeignet erachten würde, sein letzter zu sein. Bis dahin war Bronski fest entschlossen, die Botschaften, die ihm sein Herz sendete, unbeachtet zu lassen und die Ereignisse, die ihm – von vorübergehenden unbehaglichen Empfindungen abgesehen – keine weiteren Beschwerden verursachten, als bedeutungslos anzusehen. Er wollte sich mit ihnen als eher harmlosen Erscheinungen abfinden.

Tatsächlich waren Bronskis Ablenkungsbemühungen lange Zeit überaus wirkungsvoll. Er ließ seinem Herzen und dessen Eigenarten keine übertriebene Aufmerksamkeit zukommen, und für eine beträchtliche Weile ignorierte er erfolgreich die Mitteilungen seines Körpers. Ja, es gelang ihm, die flatterigen Sprünge seines Herzens in einen ihm gleichsam freundlich zugewandten Gruß umzudeuten und willkommen zu heißen.

Nun lässt sich ein solcher Betrug am eigenen Leib wohl eine Weile ungestraft aufrechterhalten, auf die Dauer wird ein Unterfangen dieser Art jedoch kaum Bestand haben und so kam übers Jahr auch für Bronski der Augenblick, an dem er dem Ruf seines Herzens mehr Gehör schenken musste. Als das Stolpern immer öfter und heftiger auftrat, dazu sein Blut immer wilder in seinen Adern zu pochen begann und eine gewaltige Kurzatmigkeit hinzukam, wurde er ernsthaft unruhig. Widerwillig kam Bronski – im Lauf einiger Monate, übereilte Schlüsse waren nun mal seine Sache nicht – zu der Überzeugung, dass mit seiner Gesundheit irgendetwas entschieden nicht in Ordnung sein müsse. Er, der immer bestrebt gewesen war, in seiner gewohnten Lebensführung möglichst keine größeren Änderungen zuzulassen, gestand sich nur auf äußersten Druck der Umstände ein, dass es besser für ihn wäre, sich mit der Bedeutung dieser körperlichen Erscheinungen näher zu befassen.

Diese Einsicht bedeutete für Bronski die schiere Qual. Ihm war schemenhaft bewusst, dass er aus dem, was in seinem Inneren geschah, Konsequenzen irgendwelcher Art würde ziehen müssen. Was von ihm verlangt wurde, war, so schwante ihm, nichts weniger als der Versuch, einen Überblick über sein gesamtes Leben zu gewinnen, es gleichsam von höherer Warte aus zu betrachten. Für Bronski war dies eine ungewohnte, ja widerwärtige Übung, und der Standort, den er dazu einnehmen musste, ein absolut fremder.

Die Erkenntnisse, die er endlich aus dieser Unternehmung gewann, benötigten, wie stets alles Neue in ihm, eine ausgedehnte Zeit der Reife, bevor sie sich zögernd in sein Bewusstsein emporarbeiteten – eine Zeit, in der sein Herzstolpern und seine Atemnöte weiterhin immer bedrohlichere Ausmaße annahmen. Als es ihm nach Wochen gelungen war, so etwas wie eine Bilanz seiner gegenwärtigen Existenz – physisch wie psychisch – zu erstellen, fiel diese katastrophal aus. Fünfzehn Jahre waren jetzt seit der Trennung von seiner Frau vergangen, und Bronski erkannte, dass er diese Jahre einfach hatte verfließen lassen. Er hatte ein Leben in Eintönigkeit und Unlust geführt, sinnlos, gedankenlos und ohne Ziel und Zweck. Ein gleichförmiger, ereignisloser und dennoch erschöpfender Zustand, der dem seiner letzten Ehejahre auf eigenartige Weise zu ähneln schien, und der nun im Lauf der Jahre in langsamer, kaum wahrnehmbarer Verwandlung in ein unentrinnbares Absterben übergegangen war. Er glaubte zu erkennen, dass er die ganze Zeit auf irgendetwas gewartet hatte, von dem er weder gewusst hatte, was es war, noch ob es jemals eintreffen würde, und wofür es nun zu spät war. Er hatte unwiderruflich, ohne es zu bemerken, eine Grenze überschritten.

Nachdem sich Bronski ausführlich und sorgfältig mit Gegenwart und Vergangenheit auseinandergesetzt hatte, kam er am Ende seiner Überlegungen zu dem Ergebnis, dass sein Leben ernsthaft bedroht war und mit größter Wahrscheinlichkeit dem Ende zu ging. Es überraschte ihn, als er erfasste, wie wenig er dieses Resultat seiner Betrachtungen wirklich bedauerte. Aber war es mit ihm nicht so wie mit einer dieser Figuren aus alten Zeichentrickfilmen, fragte er sich, wo jemand auf einem Abgrund zulief, aber gleichzeitig so in irgendeine Tätigkeit vertieft war, dass er die Gefahr überhaupt nicht bemerkte? Die Figur lief einfach weiter, in der Luft, so, als ob sie noch festen Boden unter sich hätte. Und erst, wenn sie aus ihren Gedanken auftauchte, bemerkte sie, dass sie längst in der Luft dahinlief, erschrak zu Tode und stürzte ab.

So ein Luftspaziergang konnte lange gehen. Jetzt, nach dem Absturz, noch etwas ändern zu wollen, jetzt noch die Aufmerksamkeit und Kraft aufbringen zu sollen, die er zu einem früheren Zeitpunkt benötigt hätte, schien Bronski abwegig. Er kam nicht umhin, in seiner gegenwärtigen Situation den logischen Schlussstein einer Entwicklung zu sehen, die offenbar vor sehr langer Zeit ihren Anfang genommen hatte und in ihrem unbeirrbaren Fortschreiten weder zum Stillstand gebracht noch in eine andere Richtung gelenkt werden konnte. Nun war das Ziel eben erreicht. Auf paradoxe Weise bereitete ihm diese Erkenntnis eine tiefe Befriedigung, brachte sie doch zu guter Letzt eine solide Ordnung in sein Leben, die ihm wieder Halt und Orientierung bieten konnte. Nie hatte ihm seine gleichförmige Lebensweise das Gefühl einer existenziellen Bedeutung vermittelt, nie eine Ahnung, welche Stellung er in der Welt einnehmen, wohin ihn sein Lebensweg führen könnte. Durch den gewissenhaften Blick zurück, den er bisher immer zu vermeiden versucht hatte, war ihm nun unvermittelt eine ungewohnte Sicht nach vorne aufgeschienen und hatte die vertraute Aussichtslosigkeit mit einem Mal in eine – wenn auch begrenzte – Vision verwandelt: Bronski sah sich auf der Zielgeraden seiner irdischen Existenz. Sollte er am Ende dagegen aufbegehren? Mit größten Anstrengungen noch einmal einen auf ein völlig ungewisses Ende gerichteten neuen Anfang wagen? Seine langjährigen Gewohnheiten über den Haufen werfen, um sich – wofür? – neuen Unsicherheiten, Wagnissen, Gefahren auszusetzen? Er nahm das dunkel und verführerisch leuchtende Ende fest in den Blick und kam zu dem Befund, es sei das Beste, das selbstgesprochene Urteil ohne Berufung anzunehmen.


*


In den Tagen, die dieser Einsicht folgten, verspürte Bronski eine kaum je zuvor erfahrene innere Freiheit. Die lebenslange Unschlüssigkeit, jenes gleichsam erwartungslose Warten schien von ihm genommen zu sein, eine Krise, der er sich nie recht bewusst geworden war, bot sich ihm nun, da sie zu ihrem Ende gekommen war, als bereits gelöstes Rätsel dar. Er fühlte sich leicht und beschwingt wie seit Jahrzehnten nicht mehr, und die kleinen Hüpfer, die sein Herz in immer kürzeren Abständen unternahm, waren nun in der Tat Freudensprünge, die seine neu gewonnene Erkenntnis auf heitere Art bestätigten. Ihre vielleicht todverheißende Bedeutung berührte ihn nicht mehr.

Bronski beabsichtigte, sich allmählich gedanklich auf sein Ende vorzubereiten und räumte dem Tod von nun an ein gewisses Mitspracherecht bei seinen täglichen Verrichtungen ein. Er begann, sich darüber Gedanken zu machen, welches wohl die angenehmsten Umstände wären, unter denen er sein Leben beenden könnte. Er hatte keineswegs vor, selbst Hand an sich zu legen und seinen Tod herbeizuführen. Das kam für ihn nicht in Frage. Abgesehen davon, dass er sich dazu nicht der Lage sah, fand er, dass die einmal begonnene Entwicklung nun ihren eigenen Gang gehen und ihren Abschluss zu ihrem sozusagen natürlichen Zeitpunkt und in ihrem eigenen Tempo finden sollte. Weder wollte er die Minute seines Todes im Voraus wissen, noch gar sie selbst bestimmen. Wie ein luxuriöses Geschenk an sich selber gönnte er sich in dieser Lage etwas, das er sein Leben lang verabscheut hatte: eine Überraschung. Da sie das letzte Ereignis in seinem Leben wäre, könnte sie auch keine weiteren unangenehmen Folgen mehr nach sich ziehen.

Bronski fing an, an allen Orten, an denen er sich zusammen mit anderen Menschen aufhielt, diese insgeheim daraufhin zu überprüfen, ob es ihm angenehm wäre, in ihrer Gegenwart zu sterben. Er beobachtete zunächst die Arbeitskreise und Treffen mit seinen Kollegen. Er stellte sich vor, wie ihn in diesem Kreis von Menschen plötzlich der Tod, z.B. in Form eines Herzanfalles, ereilte, und wie sich die anderen in dieser Lage um ihn bemühen würden. Zunächst wären alle erschrocken, bestürzt, dann hektisch bestrebt, einen Arzt zu verständigen, während er, vielleicht gebettet auf ein Sofa oder irgendeine provisorische Liege, sein Leben unter der Anteilnahme der Umstehenden allmählich aushauchte.

Während er solchen Betrachtungen nachhing, machte Bronski die eindrucksvolle Entdeckung, dass er die Persönlichkeit seiner Kollegen und Kolleginnen auf einmal in einer völlig neuen Weise wahrnahm: Waren sie ihm bisher weitgehend Fremde geblieben, was natürlich in erster Linie an ihm selber und seiner unverbindlich-distanzierten Haltung ihnen gegenüber gelegen hatte, so eröffnete ihm jetzt seine Phantasie überraschend einen unmittelbaren Zugang zum inneren Wesen der Menschen, mit denen er es zu tun hatte. Eine so herausfordernde Situation wie der plötzliche Tod eines Anwesenden würde alle Beteiligten von einem Augenblick zum anderen in einen sehr viel wahrhaftigeren Zustand versetzen als sonst in Gesellschaft üblich. Darauf war in der Regel keiner vorbereitet, es sei denn, sein Beruf konfrontierte ihn häufig mit derartigen Vorkommnissen, aber das war bei seinen Kollegen nicht der Fall. Diese Art des imaginativen Kennenlernens seiner Mitmenschen bereitete Bronski ein stilles Vergnügen, da er nie erwartet hätte, dass ihm einfaches Denken derart detaillierte Aufschlüsse über andere Menschen liefern könnte.

(...)



Drucken   zur Leseprobe 2   zurück zur Seite "Schreiben"